Jauchzet, frohlocket: Jubiläum des Weihnachtsoratoriums
Das "Ehre sei Gott" muss noch virtuoser werden. Bei "Dienet dem Höchsten" dagegen darf es ruhig etwas lauter zugehen. Und dass die Betonung auf "Men" und nicht "schen" liegt, sitzt auch noch nicht so richtig: Den Leipziger Thomanern wird bei der Chorprobe wenige Tage vor ihrer ersten diesjährigen Aufführung des Weihnachtsoratoriums nach einem langen Schultag viel Konzentration abverlangt.
11.12.2009
Von Corinna Buschow

Kein Wunder, dass mancher Knabe das langgezogene "Wohlgefa-a-allen" nutzt, um ein Gähnen unauffällig unterzubringen. Der Traditionschor steht in diesem Jahr unter besonderem Druck. Weil zum 275. Jahrestag der Uraufführung des Werks von Johann Sebastian Bach (1685-1750) alle sechs Kantatenteile gesungen werden, soll davon auch eine CD produziert werden, sagt Thomaskantor Georg Christoph Biller.

Aus den einzelnen Kantaten wurde ein Oratorium

Das Weihnachtsoratorium ist beliebt wie kein anderes Werk der Kirchenmusikgeschichte. Allein in Leipzig, der langjährigen Wirkungsstätte von Bach, gibt es etwa 30 Aufführungen, hat Bach-Forscher Martin Petzoldt gezählt. "So einen Durchreißer gibt es kein zweites Mal", sagt der Theologieprofessor. Als eines der "G-5" genannten großen Werke geistlicher Musikgeschichte überstrahle das Oratorium andere Stücke "mit seiner freudevollen Leuchtkraft der Verkündigung der Weihnacht", ergänzt Klaus-Martin Bresgott vom Kulturbüro der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Dabei hat Bach das Werk so, wie es heute der größte Teil der Konzertbesucher im Advent hört, nie geplant. Der bekannteste aller Thomaskantoren schrieb im Jahr 1734 Kantaten für die Gottesdienste der Weihnachtszeit - "wie üblich", so Petzoldt. Vorgesehen waren die Werke für die drei Weihnachtsfeiertage - so viele gab es zu Bachs Zeiten - sowie den Neujahrs-, den Dreikönigstag und einen Sonntag dazwischen, der von Jahr zu Jahr variiert. Die Stücke folgen der alljährlich in der Kirche gelesenen Weihnachtsgeschichte im zweiten Kapitel des Lukasevangeliums bis zum 21. Vers - der Namensgebung und Beschneidung Jesu. Damit wurde aus einzelnen Kantaten ein zusammengehörendes Werk, das Bach als "Oratorium" betitelte. Eine Aufführung am Stück sei zur damaligen Zeit aber unvorstellbar gewesen, sagt Petzoldt.

"Kindchenschema" berührt auch kirchenferne Menschen

Wahrscheinlich erst mit der Wiederentdeckung Bachs durch Felix Mendelssohn Bartholdy rund hundert Jahre später wurde dies gängige Praxis. Zumindest regte er die Aufführung der Matthäus-Passion am Stück an, erklärt Petzoldt. Inwieweit er dem Weihnachtsoratorium zum Kassenschlager verhalf, sei aber nicht sicher belegt. Zumindest dauerte es noch eine lange Zeit, bis das Werk Kirchen und Konzertsäle füllte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg habe das Bach'sche Weihnachtsoratorium immer stärker musikinteressierte Besucher angezogen.

Als Grund für die Attraktivität verweist Bach-Forscher Petzoldt auf das "Kindchenschema" in der Geschichte von der Geburt Jesu, das auch der Kirche fernstehende Menschen berühre. Und auch der "soziale Aspekt", die ärmlichen Verhältnisse in der Krippe in Bethlehem, sei nahe bei den Leuten. Dazu ist es "einfach gute Musik, die schon aus sich heraus Weihnachten formuliert", ergänzt Thomaskantor Georg Christoph Biller. Dabei war die Musik ursprünglich überhaupt nicht für diesen Anlass geschrieben. Komponisten geistlicher Werke nutzten oft alte, für weltliche Herrscher geschriebene Kantaten. "Eintagsfliegen waren das", sagt Petzoldt.

Kurzfristige Änderung bei Sopran-Soli

Erst durch den Parodie genannten Textaustausch, wobei an die Stelle persönlicher Lobpreisungen zu Geburtstagen der Mächtigen Bibelstellen zum Lob Gottes traten, seien die Werke wertvoll für die Nachwelt geworden. Auch die Musik fürs Weihnachtsoratorium lagerte vermutlich schon eine ganze Weile in Bachs Schublade, sagt Petzoldt. Wer den Text geschrieben hat, ist bis heute unklar. Möglich ist, dass Bach selbst einige der Bibelstellen aneinanderreihte, die momentan hundertfach in deutschen Kirchen erklingen. Die diesjährigen Aufführungen in der Thomaskirche sind bereits fast ausverkauft.

Von den Thomanern verlangen die drei Auftritte je etwa zwei Stunden volle Stimmleistung. Besonders die zwölfjährigen Knaben Paul Bernewitz und Friedrich Praetorius stehen unter Anspannung. Kurzfristig wurde entschieden, dass sie die Sopran-Soli übernehmen. Für Friedrich bedeutet das nach der einstündigen Chorprobe, nach der das "Ehre sei Gott", das "Dienet dem Höchsten" und die "Men-schen" in Billers Ohren gut klingen, nochmal eine Stunde üben. Diese eine Tonfolge einer schweren Arie klingt immer noch nicht so wie sie soll. 

epd