Für einen Moment kann der 24-jährige Steve nicht so fassen, was ihm passiert. Die Israelflagge in der einen, hält er mit der anderen Hand den Pfosten eines riesigen Transparentes fest. "Brecht den Baustopp" ist darauf zu lesen. Es ist kurz nach 18 Uhr. Für diesen Abend hat der Siedlerrat "Yesha" zur Demonstration gegen den Baustopp nach Jerusalem aufgerufen. 15.000 Menschen wollen die Siedleraktivisten mobilisieren, um zum Französischen Platz, unweit des Dienstsitzes von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und des amerikanischen Konsulats, zu kommen. Wenn in Jerusalem Demonstrationen stattfinden, dann meist hier. Seit 1988 halten hier die "Frauen in Schwarz" jeden Freitag Mahnwachen zur Beendigung des Konfliktes zwischen Palästinensern und Israelis ab.
Doch zu Beginn der Veranstaltung sind fast mehr Journalisten und Medienvertreter da als Besucher. Als Steve das Banner erhebt und seine Israelflagge schwenkt, ist er für einige Sekunden der ideale Blickfang für die Kameras. Mit so viel Aufmerksamkeit hatte der 24-jährige Judaistik-Student nicht gerechnet. "Ich kann einfach nicht verstehen, warum der jüdische Staat den Baustopp zulässt! Das ist das Heilige Land, das ist das Land, das uns in der Bibel versprochen wurde! Ich kann es einfach nicht verstehen!", sagt Steve und seine Stimme klingt, als ob er gleich anfängt zu weinen. Bislang war der junge Amerikaner immer nur besuchsweise in Israel, doch wenn er mit seinem Studium fertig ist, will er hier bleiben. Alija machen, heißt es, wenn Juden von ihrem Recht Gebrauch machen und nach Israel einwandern.
Vor allem viele junge Leute protestieren
Eine Stunde später ist der Platz brechend voll. Vor allem viele junge Leute sind mit über 200 Bussen aus dem ganzen Land angereist, viele mit ihren Schulklassen und Jugendgruppen. Auf Sweat-Shirts und Transparenten tragen sie ihre Botschaft "Breaking the Freeze – Bricht den Baustopp". Die Enttäuschung der Demonstranten hat vor allem eine Adresse: Premierminister Benjamin Netanjahu. Seitdem der israelische Regierungschef vor zwei Wochen auf Druck der US-Regierung einem zehnmonatigen Baustopp für neue Häuser in der Westbank verhängt hat, gehen bei den Siedlern die Wogen hoch. "Was die Likudminister getan haben, ist schrecklich und unakzeptabel. Das ist nicht, was wir von einer rechtsgerichteten Regierung erwartet haben", so Shaul Goldstein, Chef der Gush Etzion Regionalverwaltung und selbst Mitglied der Likudpartei. Es waren vor allem die Stimmen der religiösen Westbank-Siedler, die der jetzigen rechtsnationalen Regierung vor zehn Monaten zum Wahlsieg verholfen haben.
Nach Angaben des israelischen Statistikbüros leben derzeit rund 300.000 Siedler im Westjordanland und weitere 200.000 in Ostjerusalem. Vor allem im Westjordanland sind ein Großteil der Siedler national-religiös eingestellt. Sie leben dort aus der tiefen religiösen Überzeugung, dass das Land ihren Vorvätern von Gott versprochen wurde. Doch längst nicht alle Siedler leben aus ideologischen Gründen dort. Viele wohnen auch hier, weil die Häuser wesentlich billiger sind als im israelischen Kernland.
Netanjahu in der Kritik
Doch die Siedler, die zur Demonstration nach Jerusalem gekommen sind, denken vor allem wie Steve. Seit Verhängung des Baustopps vor zwei Wochen hat es bereits an mehreren Plätzen im Westjordanland Auseinandersetzungen zwischen Siedlern und Bauinspektoren gegeben. Medienberichten zufolge sollen rechte Siedlerkreise schon damit gedroht haben, sich an den Palästinensern für den Baustopp zu rächen.
[linkbox:nid=8340,7276,7218,4729,3660;title=Mehr zu Nahost]
Aber zunächst richtet sich die Kritik an diesem Abend gegen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. "Es ist immer dasselbe", schimpft ein älterer Mann. "Sobald sie an die Macht kommen, machen sie Zugeständnisse. Das war bei Scharon so, bei Olmert und jetzt bei Netanjahu. Wir können uns auf unsere Regierungen nicht verlassen." Ein Vorwurf, den sich Bibi, so der Spitzname von Netanjahu, auch von Abgeordneten seiner eigenen Partei und etlichen Bürgermeistern der Westbank-Siedlungen, die extra zur Demonstration angereist sind, anhören muss. "Der Premierminister muss US-Präsident Obama sagen: Ich werde keine Kompromisse machen, wenn es um das Land Israel geht", so der Likud-Abgeordnete Danny Danon. Er empfiehlt den Demonstranten, direkt bei Präsident Obama anzurufen, um ihm zu sagen, er solle seine Hände von Israel und den Menschen in diesem Land lassen.
"Bibi, wir bauen mit dir oder ohne dich", sagte einer der vielen Redner und erntete dafür heftigen Applaus. Der Baustopp sei unzumutbar, meint auch Dani Dayan, Vorsitzender des Rats der Jüdischen Gemeinschaft von Judäa, Samaria und dem Gazastreifen im Vorfeld der Demonstration. "Ich hoffe, dass die Zahl der Demonstranten dem Weißen Haus, dem US-Außenministerium und dem israelischen Premierminister zeigt, dass sie diese drakonische Strafe abwenden müssen." Die Siedlungen seien kein Hindernis für den Frieden, so seine Überzeugung.
Im Kernland gibt es Platz genug
Das sehen viele allerdings ganz anders: Israel schafft mit den Siedlungen Fakten, die dem Friedensprozess im Weg stehen, lautet eine gängige Auffassung. Trotzdem halten auch die Anhänger der Friedensbewegung "Peace Now" nicht viel von dem aktuellen Baustopp - wenn auch aus anderen Gründen als die Siedler: Der Baustopp bewirke nicht viel, kritisieren sie. Am Morgen haben sie ihre neueste Studie mit dem Titel "Baustopp?" vorgestellt. Derzufolge sind in Judäa und Samaria, so die jüdische Bezeichnung für die Westbank, trotz Baustopps weitere 3.500 Gebäude genehmigt worden. Durchschnittlich werde hier mehr gebaut als im israelischen Kernland. So sollen beispielsweise in Maale Adumim, einer der größten Westbanksiedlungen, 476 neue Häuser entstehen, während in Dimona, einem Ort innerhalb der Grenze von 1967, lediglich 59 neue Wohnungen gebaut werden sollen. Dabei gäbe es im israelischen Kernland noch genügend Platz, so die Botschaft der Friedensorganisation.
Die Demonstration wird wohl erst eine von vielen sein, glaubt Hagit Ofran. Die Friedensaktivistin beobachtet für "Peace now" die Siedlungsaktivitäten in Ostjerusalem und der Westbank. Die Siedler protestierten jetzt gegen eine Regierung, die sie selbst gewählt haben. "Sie merken, dass sie etwas verlieren." Der Siedlungsbau, da ist sich Ofran sicher, werde die Zwei-Staaten-Lösung nicht verhindern können. Er mache sie höchstens - wenn die Siedlungen dann aufgegeben und die Menschen wieder ins Kernland umgesiedelt werden - teurer.
Iris Völlnagel ist freie Journalistin und zurzeit mit einem Stipendium als Gastredakteurin in Israel.