Schweigen heilt die Wunden nicht: Interview mit Ex-Stasi-Offizier
Die Vergangenheit hat auch 20 Jahre nach der Wiedervereinigung noch politische Sprengkraft: In der DDR waren viele daran beteiligt, dass die Staatssicherheit Bürger bespitzeln und missliebige Meinungen unterdrücken konnte. Dieses Unrecht ist längst nicht vollständig aufgearbeitet. So haben neue Stasi-Enthüllungen in Brandenburg in den vergangenen Wochen die Linkspartei aufgeschreckt - erst im Rahmen ihrer Regierungsbeteiligung kam ans Licht, dass einige Politiker ihre Stasi-Aktivitäten bis heute verschwiegen und Partei und Öffentlichkeit damit getäuscht hatten. Ganz anders Herbert Brehmer: Der Ex-Stasi-Offizier plädiert seit langem für offenen Umgang mit geschehenem Unrecht und aktive Aurarbeitung auch persönlicher Schuld.
09.12.2009
Von Christine Kükenshöner

Schuldfragen – Versöhnungsarbeit ist langwierig und schmerzhaft. Das weiß der ehemalige Oberstleutnant beim Ministerium für Staatsicherheit in der DDR (MfS) Herbert Brehmer aus eigener Erfahrung. Neun Jahre hat der Ex-Stasi-Offizier an "Zwie-Gesprächen" zwischen Verursachern und Betroffenen in der Erlöserkirche in Berlin-Rummelsburg teilgenommen.

Schuldübernahme sei eine gemeinsame Aufgabe ehemaliger Stasi-Mitarbeiter, ist der 74-Jährige überzeugt. Auch diejenigen, die wie er im Auslandsgeheimdienst des MfS gearbeitet haben, sollten an der Verantwortung für im Auftrag der DDR-Regierung geschehenes Unrecht mittragen. Mit dieser Auffassung macht sich der einstige Mitarbeiter der Hauptverwaltung Aufklärung jedoch nicht nur Freunde unter seinen Kollegen.

Im Interview berichtet Herbert Brehmer über Desinformation, "Stunden der Wahrheit" und über ein "kleines Stück Friedliche Revolution" am diesjährigen Buß- und Bettag: In der Berliner St. Marienkirche, unter den Ohren von rund 100 Gottesdienstbesuchern führte er erneut ein Zwiegespräch mit einer Frau, die viele Jahre von der Stasi überwacht wurde.

"Der Pfarrer sagte nicht etwa: Ich vergebe Ihnen"


evangelisch.de:
Herr Brehmer, seit 1990 fanden in der Erlöserkirche Gespräche zur Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit statt, und Sie waren von Anfang an mit dabei. Wie kam es dazu?

Herbert Brehmer: Was sich damals ereignete, betrachte ich heute als glückliche Fügung. Es war kurz nach der Wiedervereinigung, als ich zu Pfarrer Ulrich Schröter ging, um mit ihm über das Thema der Niederlage sprechen. Es war ein egoistisches Anliegen; ich wollte meinen Ballast abladen. Dann brachte ich noch einen Freund mit. Pfarrer Schröter war sehr streng mit uns. Er sagte nicht etwa "Ich vergebe Ihnen". Er war zu weiteren Gesprächen bereit, aber nur wenn auch andere, die von der Überwachung der Stasi betroffen waren, an den Gesprächen teilnähmen. Das sei der Weg der Erkenntnis.

evangelisch.de: Wie kamen Sie auf die Idee, ausgerechnet einen Pfarrer anzusprechen?

Brehmer: Ich wusste, dass die evangelische Kirche immer in entscheidenden Momenten die Schwachen, auch die seelisch Schwachen unterstützt hat. Die Kirche hat uns damals aufgefangen. Das ist etwas zutiefst Menschliches – und göttlich ist es ohnehin. Die Kirchenleitung hat das allerdings anders gesehen, soweit ich weiß.

"Ich bin froh, dass ich meine Chance genutzt habe"


evangelisch.de:
Wie häufig trafen Sie sich und wer war dabei?

Brehmer: Nach und nach entstand ein Kreis von Opfern und Tätern, die sich monatlich trafen. Es kamen auch ehemals Inhaftierte. Aber auch Kollegen von unserer Abwehr kamen dazu, welche die Kirche bearbeitet hatten. Auch die haben sich den Vorwürfen gestellt.

evangelisch.de: Kam es bei diesen Gesprächsrunden zu persönlichen Schuldbekenntnissen?

Brehmer: Ja, auch die gab es. Aber das stand nicht im Vordergrund. Entscheidend war, dass man sich gegenseitig zugehört hat, statt sich zu beschimpfen und voreilig zu urteilen. Tabus gab es nicht. Wir haben uns ausgesprochen und das war befreiend.

evangelisch.de: Waren die Aussprachen nicht auch belastend?

Brehmer: Ich habe es durchgestanden. Es war hart, aber gerecht. Der Dialog musste immer wieder erlernt werden. Die Wahrheiten waren schmerzlich. Oft genug befand ich mich im freien Fall. Mehrmals habe ich die Runde verlassen, um unbequemen Fragen auszuweichen. Täterschaft wollte ich für mich zunächst nicht hinnehmen. Aber Täterschaft hat viele Gesichter. Heute bin ich froh, dass sich meine Flucht aus den Debatten in Grenzen hielt, dass ich meine Chance genutzt habe.

"Es gibt keine Zukunft ohne Auseinandersetzung mit der Vergangenheit"


evangelisch.de:
Inwiefern wollten Sie Täterschaft für sich nicht anerkennen?

Brehmer: Ich gehörte der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) an, war also Nachrichtendienstler, was man so Spionage nennt. Zunächst habe ich mich – mehr oder weniger erfolgreich – mit militärischen Themen beschäftigt, später war ich in der Abteilung für Desinformation. Wir von der Aufklärung wussten vieles, aber zur inneren Situation wussten wir wenig. Wir hatten nicht direkt etwas mit den Opfern im Inland zu tun. Insofern könnte ich sagen, ich hätte Glück gehabt, aber das sage ich nicht. Denn eigentlich war sowieso alles daneben. Selbstverständlich habe auch ich Berichte schreiben müssen. Ich habe jedoch niemanden wegen seiner politischen Arbeit angezinkt. Schließlich stamme ich aus einer Familie, die in der Nazi-Zeit verfolgt wurde - ich habe als Kind miterlebt, was es heißt, gehetzt zu werden. Dennoch: Es gibt keine Zukunft ohne Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Als ehemaliger Mitarbeiter des Ministeriums habe auch ich Verantwortung zu tragen für das Geschehene, auch wenn ich mit dem Einzelfall nichts zu tun hatte.

evangelisch.de: Warum wurden die Gespräche nach fast neun Jahren eingestellt?

Brehmer: In den ersten Jahren war es ein großer Gefühlsstau. Ab 1995 wurden die Gespräche sachlicher und das war auch richtig so. Verwischt wurde nichts. Aber irgendwann war es genug. Wir schmorten im eigenen Saft, drehten uns im Kreis. Eine Denkpause war nötig.

"Überzeugungen und Glaube schmolzen wie Schnee"


evangelisch.de:
Wie beurteilen Sie Ihre frühere Tätigkeit beim Ministerium für Staatssicherheit?

Brehmer: In den Oktobertagen 1989 dachte ich erstmals konsequenter über den Sinn meiner Arbeit nach. Das war im 27. Jahr meiner Zugehörigkeit in der Aufklärung im MfS. Bis dahin war ich von der Notwendigkeit unserer Tätigkeit überzeugt gewesen. Überzeugungen und Glaube schmolzen jedoch wie Schnee. Das Dunkle und Graue wurde sichtbar. Der Beruf des Geheimdienstmannes ist der eines Einzelgängers. Es gibt natürlich eine gewisse Kameraderie, aber am Ende ist man mit seinen Geheimnissen allein. Den größten Teil dessen, was einen bewegt, kann man nicht mit anderen teilen. Aus diesem Grunde beuten Geheimdienste auch ihre Leute aus. Das weiß jeder, der eintritt.

evangelisch.de: Wie denken Sie heute über "die Niederlage"?

Brehmer: Die Niederlage war "verdient". Das gesellschaftliche Modell, das im Osten aufgebaut worden war, war eine Utopie, dann auch noch verkommen in militanten Machtstrukturen. Das Ministerium war ein Moloch geworden. So war es 1989 ein Neuanfang, ein Realitätsgewinn, eine Stunde der Wahrheit. Inzwischen bin ich froh, dass ich das Ende miterleben durfte, auch wenn ich materiell nur Nachteile davon habe.

"Ein kleines Stück Friedliche Revolution 20 Jahre danach"


evangelisch.de:
Kürzlich haben Sie an einem Buß- und Bettags-Gottesdienst in der Berliner St. Marienkirche mitgewirkt, in dem es um Schuldübernahme und Schuldvergebung im Zusammenhang mit der Stasi-Vergangenheit ging. Wie war das für Sie?

Brehmer: Eigentlich war ich für die Aufgabe, in diesem Gottesdienst zu sprechen, wenig geeignet. Mit der Inlandsaufklärung hatte ich ja wenig zu tun. Aber die beiden Pfarrer von der Marienkirche hatten es offenbar schwer, jemanden aus meiner "Firma" zu finden, der das macht. Für mich war es eine Art Erfüllung, vor den Menschen in der Kirche sprechen zu dürfen. Ich war sehr aufgeregt, und ich empfand es als ein kleines Stück Friedliche Revolution 20 Jahre danach.

evangelisch.de: Mangelt es heute noch oder wieder an Gesprächen zur Aufarbeitung von Unrechtserfahrungen zu Zeiten des SED-Regimes?

Brehmer: Inzwischen verkriechen sich so manche in ihre Schneckenhäuser, die Verursacher und die Betroffenen. Die Zeit, sagt man, heilt alle Wunden. Aber nicht, wenn geschwiegen wird.


Christine Kükenshöner ist freie Journalistin und Theologin.