Wie Vanessa laufen lernte: Spitzensportlerin mit Kunstbeinen
Behindertensport wird in Deutschland gefördert wie in kaum einem anderen Land der Welt. Die Resonanz in den Medien und das Interesse der Öffentlichkeit sind bisher jedoch gering. Weshalb Anerkennung eher angebracht ist als Mitleid und was einen behinderten Sportler von einem gesunden unterscheidet, kann die neunzehnjährige Athletin Vanessa Low wohl am besten beantworten.
08.12.2009
Von Mathias Kolta

Erinnern kann sie sich nicht an den Unfall. Es wurde auch nie geklärt, was im Juni 2006 an dem Bahnübergang genau geschah. Aber als der Zug die fünfzehnjährige Vanessa überrollt, ist ihr linkes Bein abgetrennt, kaum ein Knochen im Körper des Mädchens ist nicht gebrochen. Um ihr Leben zu retten, amputieren die Ärzte auch ihr rechtes Bein. Zwei Monate liegt sie im Koma, fünf Monate im Krankenhaus. Der Mut und die Entschlossenheit der heute neunzehn Jahre jungen Frau lassen jedoch auf ein solches Schicksal nicht schließen.

Vier Meter Schrittlänge bei vollem Tempo

Vanessa Low war schon immer sportlich, vor dem Unfall tanzte sie Ballett und spielte Handball. Sie entschied sich noch im Krankenhaus, weiterhin Sport zu machen. Sie wollte Leichtathletin werden. Auf den ersten Blick sieht man ihr nicht an, dass sie keine Beine hat: Mit ihren Prothesen und einer Krücke kann sie stehen, laufen und Treppen steigen – vielmehr scheint es so, als wäre ein Knöchel verstaucht. Vanessa ist ein hübsches Mädchen. Lange blonde Haare, blaugrüne Augen und ein athletischer Körper. Die Jungs schielen ihr hinterher, wenn sie die Sporthalle betritt. Wechselt sie dort ihre Alltagsprothesen gegen ihre Sportbeine, sprintet sie die 100 Meter in 17,8 Sekunden, springt 3,64 Meter. Bei ihren Trainingssprüngen fehlen ihr nur neun Zentimeter bis zum Weitsprung-Weltrekord in ihrer Klasse.

Da wo eigentlich die Knie wären, sind Karbon-Federn angeschraubt – sie ersetzen ihre Unterschenkel und die Füße. Die Laufschuhe hat sie in der Mitte zerschnitten, sie braucht nur den vorderen Teil mit den Spikes. Vanessa startet im Stehen, mit der rechten Hand stützt sie sich auf dem Boden ab. Erst nach einigen Metern erlangt sie volle Geschwindigkeit, dann aber verlängert sich ihre Schrittlänge auf über vier Meter und sie ist kaum zu stoppen.

Als Vanessa nach dem Unfall aus dem Krankenhaus entlassen wird, muss sie das Laufen erst wieder neu erlernen. Es dauert zwei Jahre, bis sie mit den Alltagsprothesen zurechtkommt und den nächsten Schritt wagt. Ihren Anfang als Leichtathletin macht sie im Februar dieses Jahres beim Landesleistungszentrum Schleswig Holstein – hier leiht sie sich Sportprothesen und macht erste Gehversuche mit den ungewohnten Beinen.

"Es braucht Zeit, bis jemand sein Schicksal akzeptiert"

Ihr neues Leben im Spitzensport beginnt beim TSV Bayer 04 Leverkusen, der seit 1950 den Behindertensport unterstützt. Mit über 300 Mitgliedern zählt der rheinländische Verein zu den größten und erfolgreichsten Deutschlands. Seit Anfang der 90er Jahre ist Leichtathletik ein Schwerpunkt des Behindertensports in Leverkusen. Die Athleten konnten schon zahlreiche WM-Titel feiern, Bayer-Behindertensportler errangen über fünfzig Medaillen bei Paralympischen Spielen.

Trotz der sportlichen Erfolge der letzten Jahre beschäftigt eine Sorge den Geschäftsführer der Behindertensportabteilung Jörg Frischmann ständig: Nachwuchs. "Es braucht Zeit, bis jemand nach einer Krankheit oder einem Unfall sein Schicksal akzeptiert – den nächsten Schritt, Sportler werden und mit der Behinderung etwas erreichen, machen leider nur wenige."

Umso wichtiger sei es, junge Talente wie Vanessa zu fördern und zu unterstützen. Sie bekommen die Federn ihrer Sportprothesen über den Verein und auch bei der Ausbildung oder der Jobsuche hilft Jörg Frischmann wo er kann. Ihm ist es wichtig, dass seine Zöglinge nicht zu viele Probleme im Alltag haben und sich besser auf den Sport konzentrieren können.

"Der Sport hat mein Leben gerettet"

Vergangenen Monat hat Vanessa ein Praktikum bei der Sparkasse in Leverkusen
begonnen. Jörg hat ihr diese Stelle organisiert. Um Geld zu verdienen, arbeitet sie an
den Wochenenden in einer Diskothek. Momentan bedeutet das eine sechzig Stunden Arbeitswoche für sie – hinzu kommen zwei Stunden Training pro Tag. Im Anschluss an das einjährige Praktikum möchte sie gerne Wirtschaftsingenieurwesen studieren.

Es sei neben dem Sport sehr wichtig, den Athleten eine zweite Perspektive zu ermöglichen, zumal es sehr schwierig sei, mit Behindertensport seinen Lebensunterhalt zu verdienen, wie Frischmann erläutert. Er weiß wovon er redet. Bei seiner Geburt haben sich Hände und Füße des zweifachen Vaters nur teilweise entwickelt. Er kann trotzdem viele Titel vorweisen - mehrmals gewann der Kugelstoßer Medaillen bei Paralympischen Spielen. Seit fast zwanzig Jahren ist der 45jährige schon im Verein und hält nun den Posten des Geschäftsführers. Ohne "Frischi", wie ihn die Sportler liebevoll nennen, gäbe es die Behindertensportabteilung des Vereins womöglich nicht mehr.

Vanessa würde sich über Konkurrenz freuen. Derzeit ist sie weltweit die einzige doppeloberschenkelamputierte Frau im Behindertensport. Daher muss sie in der Klasse der Einfachamputierten starten. Anfänglich waren alle skeptisch, ob sie da überhaupt mithalten könne. "Ich habe mich dann qualifziert und allen gezeigt, dass es geht", erzählt Vanessa stolz. Auch sie appelliert an Menschen mit Behinderung, den Schritt zu wagen: "Der Sport hat mein Leben gerettet – ich habe viele neue Freunde gewonnen und komme ganz schön rum in der Welt." Heute würde sie ihre Beine nicht wieder haben wollen, hätte sie die Wahl. "Natürlich ist es manchmal schwierig, will ich zum Beispiel schwimmen gehen oder einfach nur schnell eine Treppe hoch – aber ich bin glücklich und weiß nicht, wo ich heute stünde, wäre der Unfall nicht gewesen."

270 Prozent Energieaufwand

Angenommen, ein gesunder Mensch wendet beim Sport einhundert Prozent Energie auf, so ist bei einem einseitig Amputierten etwa doppelt so viel nötig, um die gleiche Leistung zu erzielen. Bei Vanessa sind es sogar 270 Prozent. "Um die fehlenden Körperteile zu kompensieren, benötigt der Körper ganz einfach mehr Energie", erklärt Dr. Volker Anneken, Geschäftsführer des Forschungsinstituts für Behinderung und Sport. Auch die Motivation und der Ehrgeiz, erfolgreich im Sport zu sein, sei bei Behindertensportlern größer als bei gesunden Menschen. Es gäbe zwar keine fundierten Erkenntnisse darüber, "jedoch wird durch den Sport die Leistungsfähigkeit des eigenen Körpers deutlich und es zeigt diesen Menschen, zu was sie noch in der Lage sein können", wie er weiter ausführt.

Des Weiteren bestätigt Anneken das Phänomen, dass sich viele Menschen mit Amputationen die verlorenen Gliedmaßen nicht wieder wünschen. Allerdings sei dies "meist bei Leistungssportlern der Fall, die ihre Behinderung akzeptiert haben und schon mehrere Erfolgserlebnisse in ihrer neuen Lebenssituation hatten." Menschen hingegen, die ihre Behinderung nicht akzeptieren, würden niemals erfolgreich im Spitzensport sein.

Die Schäfte der Prothesen sind aus Karbon gefertigt und individuell an Vanessas Beinstümpfe angepasst. Es dauerte eine Zeit, bis die Prothesen richtig sitzen und je nachdem wie die Muskulatur sich verändert, müssen die Schäfte entsprechend angepasst werden. "Wenn das nicht geschieht, fängt es ständig an zu bluten und es wird sehr schmerzhaft beim Laufen", erklärt Vanessa. Die Alltagsprothesen werden fnanziert, die Sportprothesen jedoch seien laut Krankenkasse nicht notwendig. Vanessa meint, dass sei nicht logisch, zumal ihre Gesundheit durch den Sport durchaus verbessert wird. Die Kosten für ein Sportbein belaufen sich auf etwa 10.000 bis 15.000 Euro, je nachdem welche Materialien und Technik verbaut werden. Sehr hohe Kosten kämen auf sie zu, würde nicht ihr Orthopädiemechaniker unentgeltlich seine Zeit für die Weiterentwicklung der Schäfte spenden.

Das Athleten-Vorbild über Facebook kennen gelernt

In ihrer Wohnung hat Vanessa einen Rollstuhl, den bräuchte sie aber jetzt nicht mehr: "Ich habe mich an meine neuen Beine gewöhnt." Wenn Vanessa morgens aufwacht, zieht sie sich als erstes ihre Prothesen an. Dann erst beginnt der Tag für die Neunzehnjährige. Und wenn sie abends ins Bett geht, dann legt sie ihre Beine wieder ab. Hin und wieder hat Vanessa auch noch Schmerzen, so genannte Phantomschmerzen. Wenn der Körper denkt, alles sei noch dran. Es ließe sich etwa mit dem Gefühl vergleichen, als wäre das Bein eingeschlafen. "Das ist aber alles eine Sache der Psyche – nach dem, was ich alles schon erlebt habe, bekomme ich dieses Problem auch noch in den Griff."

Als Vanessa aus dem Koma erwachte, wurde sie auf den amerikanischen Leichtathleten Cameron Clapp aufmerksam und setzte sich das Ziel, wie er Athlet zu werden. Die beiden haben eine ähnliche Geschichte: Wie Vanessa wurde auch Cameron als fünfzehnjähriger von einem Zug überfahren – beide Beine und sein rechter Arm wurden abgetrennt. Heute kennen sie sich persönlich. Über Facebook halten sie den Kontakt und schreiben sich regelmäßig E-Mails. "Cameron hat mich damals inspiriert – durch ihn habe ich erfahren, was mit so einer Behinderung alles möglich ist – es würde mich sehr freuen, wenn sich andere Menschen nun ein Beispiel an mir nehmen."

Seit etwas mehr als einem halben Jahr ist Vanessa Low jetzt Leichtathletin. Im November holte sie bei den "World Games" der Amputierten in Indien bereits Silber im 100 Meter Spring. Mit einem Weitsprung über 3,92 Meter bricht sie sogar den bestehenden Weltrekord in ihrer Klasse – Goldmedaille für Deutschland. Und ab jetzt, da ist sie sich sicher, holt sie für Deutschland jedes Jahr mindestens eine Medaille dazu.


Mathias Kolta ist freier Journalist aus Dortmund und schreibt für evangelisch.de.