Kurz nach Mitternacht traten bei Reinigungsarbeiten rund 40 Tonnen hochgiftiges Methylisocyanat aus einem Lagertank aus. Das Giftgasgemisch verätzte die Haut, die Augen, die Lungen und die Schleimhäute. Bis heute kennt keiner genaue Opferzahlen. Zwischen 10.000 und 25.000 Menschen starben in den ersten Tagen nach der Katastrophe. Etwa 500.000 erlitten teils irreversible Gesundheitsschäden.
Seither ist Chauhan ein Getriebener. "20 Prozent der Anlage sind hoch belastet", sagt er wütend. Manchmal führt er Besucher über das Gelände, wo Bäume längst die verrosteten Anlagen der Fabrik überwuchern. Er zeigt ihnen die alten Tanks und Kessel, die verrotten ohne abgeräumt zu werden. "Die Fabrik verseucht immer noch das Wasser", klagt Chauhan. "Man kann die Chemikalien riechen."
Hellgelbes, stinkendes, brennendes Wasser
Die Regierung in Bhopal bestreitet das. "Da ist nichts mehr!", beteuert Babular Gaur, Minister für Gasopferhilfe. Er sitzt in der Morgensonne im Garten seiner Residenz im Süden der Stadt. Grüne Hügel und ein künstlicher See trennen das Viertel der Bessergestellten von den Industrie- und Armenvierteln, wo Union Carbide das Insektengift Sevin herstellte. "25 Jahre Regenzeit haben alles verschwinden lassen", sagt der 80-Jährige fröhlich. "Ich gehe jeden Monat über das Gelände."
Allerdings räumt Gaur ein: "Wir haben die Leute angewiesen, das Grundwasser nicht zu trinken." Es sei zwar in Ordnung, aber es rieche nach Kerosin. Stattdessen habe die Regierung Wasserleitungen gelegt und schicke Tanklaster in die Gegend. Um die Fabrik herum leben rund 100.000 Menschen in Slums. "Die Leute leben dort, weil sie es so wollen. Das ist nicht Pakistan hier. In einer Demokratie können wir die Leute nicht zwingen, umzuziehen", erklärt Gaur.
Saleha ist eine, die nicht die Wahl hat. Gleich hinter der Hütte der 40-Jährigen kann man die schon halbzerfallene Mauer der Fabrik sehen. Kinder spielen im Gras dahinter. Die schwarzen Leitungsrohre der Regierung liegen unangeschlossen vor der Hütte. "Nur alle paar Tage kommt ein Wassertanker", sagt Saleha. Das Wasser aus dem Boden trinkt sie nicht. "Es ist giftig. Es ist hellgelb, stinkt und brennt." Sie und ihre Familie holen das Wasser von weit her, wenn die Vorräte erschöpft sind.
Irreversible Gesundheitsschäden
Nur ein paar Hundert Meter von Salehas Hütte entfernt steht die staatliche Jawaharlal Nehru Klinik. Immer noch versorgen die Ärzte jeden Tag über 1.000 Menschen, die an den Folgen der Gasvergiftung leiden. "Wir behandeln hier besonders viele Menschen mit Atemwegserkrankungen", erläutert Chefarzt Ravi Verma. Berichte darüber, dass auch die Kinder der Opfer geschädigt sind, will er nicht kommentieren: "Ich sehe keine deutliche Veränderung." Die Frage werde immer noch geprüft. Nach Aussagen von Hilfsorganisationen hat die Regierung entsprechende Studien eingestellt, weil die sich abzeichnenden Ergebnisse nicht in ihrem Sinne waren.
Tarun Thomas ist anderer Meinung als der Arzt. Er kümmert sich mit seinem Chingari-Trust um 300 zum Teil schwerstbehinderte Kinder. "All die Kinder sind aus Familien, die vom Gift betroffen waren", sagt er. Sie liegen apathisch da, haben spastische Anfälle, schreien und weinen. "Sogar die Ärzte sind erstaunt, wieviele behinderte Kinder es hier in der Gegend gibt", betont Thomas. Geld von der Regierung erhält er nicht. Die Tagesklinik lebt von ein paar Spenden und viel ehrenamtlichem Engagement.
Entschädigungsgeld in Indien angekommen - bei den Opfern nicht
Der US-Konzern Union Carbide, dem die Bhopal-Fabrik zur Hälfte gehörte, hat zehn Jahre nach dem Unglück die für die damalige Zeit beträchtliche Entschädigungssumme von über 500 Millionen US-Dollar an die indische Regierung gezahlt. Doch viele Opfer haben entweder gar nichts erhalten oder warten bis heute auf ihren Anteil. Das juristische Ringen um die Schuld an der Katastrophe dauert ebenfalls an. Der US-Manager, für den in Indien ein Haftbefehl besteht, ist ebenso auf freiem Fuß wie sein indischer Kollege, der heute einen großen indischen Autokonzern leitet.
Minister Gaur weiß von all dem ebensowenig wie von Opfern der zweiten Generation. "Ich habe keine Beschwerden gehört", sagt er und fügt strahlend hinzu: "Ich bin auch ein Gasopfer."