Astrid Krall ist darauf eingestellt, dass die Leute gucken, wenn sie den Kinderwagen durch die Stadt schiebt. Aber manche Menschen starren derart, dass sie sich dazwischenstellen möchte, um diesen Blick auf ihr Kind zu brechen. Im Buggy liegt ein Mädchen, zu groß, um noch geschoben zu werden. Blonde Locken umrahmen ein sehr ernstes Gesicht. Der Mund hängt offen. Schaumstoffstützen halten den Kopf seitlich.
Wenn man das Mädchen fragt, ob es Tee oder Apfelsaft möchte, ob ihm die Ohren wehtun oder die Zähne, antwortet es nicht. Es versteht die Frage nicht. Wenn man ruft, "Marit, guck doch mal!", reagiert es nicht. Marit weiß nicht, dass sie Marit ist. Sie ist sechs Jahre alt, aber geistig und motorisch auf dem Stand eines viermonatigen Säuglings stehengeblieben. Marit kann nicht mal kauen.
"Die hat was an den Chromosomen", sagte sechs Wochen nach der Geburt die Kinderärztin, der die Muskelschlaffheit auffiel. Humangenetiker untersuchten das Erbgut in den Zellen und sahen: Ein Chromosom ist zu kurz, ein anderes zu lang. Solche Kinder, sagte ein Arzt, gingen normalerweise am Anfang der Schwangerschaft als Frühgeburt ab. Marit aber blieb im Bauch ihrer Mutter. 28 war die damals.
Fünf Lungenentzündungen in einem Winter
Schmerzlich war es zu sehen, wie andere Babys zu greifen begannen, zu krabbeln, und ihr Baby nicht. Dass Marit nie wird singen können, war für die Mutter besonders schmerzlich. Den Vater dagegen traf die zusätzliche Diagnose Epilepsie. "Weil es das sichtbarste Leiden ist. Unter ihrer Behinderung leidet sie ja nicht." Aber die schweren Krampfanfälle fast wöchentlich, wenn Marit zu atmen aufhört und blau anläuft; die starken Medikamente dagegen, die das Immunsystem schwächen; die vielen Infekte deshalb - in einem Winter hatte Marit fünf Lungenentzündungen.
Astrid und Torsten Krall planten kein Kind damals, als sie beide in der Ausbildung zu Pfarrern waren. Und dann ist es auch noch schwerstmehrfachbehindert. Es waren tiefe Täler am Anfang. Später waren sie kürzer und weniger tief. "Man wächst da rein, man kann sich einrichten", sagt Astrid Krall. "Marit ist eine Aufgabe, aber keine Katastrophe, wirklich nicht."
Doch die Eltern bekommen Bemerkungen zu hören wie diese: "Wie furchtbar, was für ein Schicksalsschlag! Das tut uns so leid." Torsten Krall, 36, ist ein ruhiger Mensch, aber so was macht ihn wütend. "Diese Leute urteilen über Marits und unser Leben, ohne es zu kennen. Wir führen kein von Leid gezeichnetes Leben, aber die schauen gar nicht genau hin."
Der hyperaktive Junge massierte ihr den Rücken
Wird Marit morgens in den integrativen Kindergarten der Stadt Köln gerollt, kommen die Kinder gelaufen: "Marit ist da!" Und Marit schlegelt freudig mit den Armen. Sie ist beliebt: immer freundlich, auch robust, man kann sogar auf ihr rumturnen. Und sie kann gucken, konzentriert und sehr ruhig. Ein aufgewecktes wildes Kerlchen, das nur rannte und damit die anderen nervte, suchte oft die Nähe von Marit. Der hyperaktive Junge erzählte ihr aus Kinderbüchern, massierte ihr mit dem Igelball den Rücken oder schaute sie einfach nur an. Marit als meditatives Zentrum. Jetzt ist er in die Schule gekommen.
Dass Marit weder ein Baby noch eine Puppe ist, mussten die Kinder erst lernen. Nur die Erzieherinnen dürfen sie füttern, beim Wickeln wird nicht zugeschaut, und weil Marit sich so schnell nicht wehren kann, sind nur Handküsse erlaubt.
Das finden die Kinder schade. Auch dass Marit nicht sprechen kann. Manchmal macht sie laut "jrä, jöjö, brl, örlödrö...", meist aber knurpselt sie leise hinten im Rachen. "Ich mag das gern, wenn Marit knurrt", sagt der bedächtige Thomas. "Und wenn sie knurrt, sagt sie ja auch was." Er sinniert über seiner Schüssel, randvoll mit Smacks. "Ich versteh's halt nicht." Nur dann, wenn Marit was partout nicht will.
Sie kann zwar nicht Nein sagen, nicht mal den Kopf schütteln, "aber sie kann würgen, wenn sie was nicht trinken will, da wird Ihnen ganz anders", sagt die Mutter. "Man kann ihr Saft anbieten, Tee, gezuckert bis zum Abwinken - Marit trinkt nur Milch. Oh ja, vom Willen her ist sie groß."
Kuchen kann Marit auch unpüriert essen
Am liebsten isst Marit Schokopudding. Nur bekommt sie den nicht allzu häufig. Sondern das normale Essen, einmal durch den Mixer gejagt. Allerdings keinen Brokkoli. Da würde das große Würgen einsetzen. "Kuchen dagegen kann die Marit auch unpüriert essen - was immer uns das sagen mag", sagt Astrid Krall. Die 35-Jährige nimmt vieles mit trockenem Humor.
"Marit ist eben ein Genussmensch", sagt Torsten Krall und bestellt ihr im Straßencafé zum Apfelkuchen eine große Portion Schlagsahne. Eine halbe Stunde ist Marit nur noch Geschmack. Dann wird ihr alles zu viel: die Leute, die an ihr vorbeigehen, der Handwerker, der am Straßenrand in seiner Werkzeugkiste wühlt - sie macht die Augen zu. "Marit geht gerade auf Autopilot", sagt der Vater.
So schützt sich das Kind. So schützt es sich allerdings auch vor der Krankengymnastin, die Marit auf den Bauch dreht, ihr die Ellenbogen als Stützen anwinkelt, so dass die Sechsjährige den Kopf halten müsste. Das wäre wichtig, denn alle Sinneseindrücke sind von der Kopfstellung abhängig. Doch Marit klappt die Augen zu und lässt den Kopf hängen.
Der Vater erklärt ihren Charakter so: "Marit ist sehr eins mit sich. Das ist einerseits ihr Segen, denn die anderen Kinder suchen diese Ruhe. Andererseits ist es ihr Fluch, weil sie keinen Ehrgeiz hat, anders zu werden, sich zu entwickeln."
Die ganze Familie ist stolz auf Marit
Kann das Kind überhaupt irgendetwas? Die Eltern kommen auf eine ganze Menge Fähigkeiten: Marit kann unterscheiden zwischen bekannten und fremden Menschen. Sie merkt, wenn man streng mit ihr spricht: "Marit, du trinkst jetzt was!" Sie schätzt Musik, strampelt dann mit den Beinen. Beim Singen ist ihr alles recht, von Kirchenlied bis Popsong; Instrumente mag sie nur live.
Und sie hat eine innige Beziehung zu ihren Großeltern. Da darf sie auch, was sie noch kann: sich mit Wucht nach hinten werfen, wenn sie seitlich auf dem Schoß sitzt - gar nicht gut für ihre Halswirbelsäule. Aber wofür hat man Großeltern. Die Großeltern wollen auch immer die neuesten Fotos haben, um sie herumzuzeigen.
Die ganze Familie ist stolz auf Marit. "Marit ist von der Natur so schlecht ausgestattet, sie macht wirklich das Beste draus", sagt die Mutter. "Sie ist hübsch. Und wie sie durch ihre Augen spricht!", sagt der Vater. Es sei einfach schön, Marit zu kennen. "Wir sind stolze Eltern eines glücklichen Mädchens, aber das glaubt uns keiner."
Eine typische Situation: Pfarrer Krall besucht eine Jubilarin, andere ältere Damen sind auch da. "Kinder?", fragen die. Aha, eine Tochter. Dann ist die sicher im evangelischen Kindergarten? Nein, sagt der Vater, sie ist im integrativen Kindergarten, sie ist behindert. Die Damen schauen betroffen auf den Boden.
Die Eltern müssen leiden - meinen Außenstehende
Torsten Krall kommt gar nicht dazu, mehr von seinem Kind zu erzählen. Und wenn er doch mal gegen allen Widerstand erzählt, glaubt man ihm nicht. Nach dem Motto: Das kann nicht sein. Das kann nicht Spaß machen, auch nicht zwischendurch. Eine Kollegin sagte ihm mal, sie spüre keine Trauer bei ihm, also sei er nicht bei seinen Gefühlen.
So was erbittert den Vater. Dass alle davon ausgehen, Behinderung bedeute automatisch Leid. "Ja, Marits Behinderung schränkt mein Leben ein. Aber sie bereichert mein Leben auch. Und es gibt einen Unterschied zwischen Einschränkung und Leid." Auch ihr Glaube hilft den Eltern. "Dass unser Herr uns begleitet durch die Tiefen des Lebens - dass wir nicht davor bewahrt werden, aber darin. Das ist eine Kraft", sagt Astrid Krall. Sie empfindet es so, dass dieses Kind ihr anvertraut wurde. Auch zugetraut.
Aber die Kralls sind keine Frömmler. "Das Beten nutzt mir nichts, wenn ich seit sechs Jahren drei Mal in der Nacht aufstehen muss und entsprechend gerädert bin am Tag", sagt die Mutter nüchtern.
Marit ist behindert, das ist halt so. Dieser banale Satz ist für das Paar bedeutsam geworden. "Man hat sein Leben nicht in der Hand. Wer das meint, macht sich was vor", sagen die Kralls. Sie haben gesehen, dass Menschen ihre Arbeit verloren, die sich gerade ein Haus gekauft hatten, dass eine Ehe zerbrach, wo es niemand erwartet hätte. Dass jemand schwer erkrankte. Oder eben auch ein Kind behindert auf die Welt kam.
Mitleid als Kränkung
Astrid Krall trifft sich mit anderen Müttern schwerbehinderter Kinder. Das Wichtigste in der Gruppe: "Wir erkennen gegenseitig an, dass wir als Familien ein gutes Leben führen." Von anderen dagegen bekommt sie meist Mitleid zu spüren.
Mitleid zu haben gilt als gut. Doch die Kralls empfinden Mitleid als kränkend. Weil es ihr Leben abwertet. Was genau passiert da? Torsten Krall hat beobachtet, dass die Menschen ihm plötzlich nicht mehr zuhören, wenn er von seiner Tochter erzählt. "Es macht klack, klack, klack, und die Leute stellen sich vor, sie hätten selbst ein behindertes Kind gehabt." Er kann ihnen dabei zuschauen, wie ihr Lebenskonzept zusammenbricht bei dieser Vorstellung. Panik sieht er in den Gesichtern. Schön ist das nicht für ihn. Denn es ist sein Leben, das den anderen Angst macht.
Vielleicht ist die Angst vor Behinderung ein Statthalter für ganz andere Ängste: für die Angst vor all dem Unwägbaren im Leben; aber auch vor dem unvermeidlichen Schwinden der Lebenskraft, vor Abhängigkeit. Angst ist unangenehm, bloß weg damit. Durch Mitleid distanziert man sich. Die ist behindert, nicht ich. Das arme Kind. Und vor allem: die armen Eltern.
Mit Neugier können die Kralls umgehen, aber gegen solche Projektionen fühlen sie sich machtlos. Das Gefühl kennen auch Schwerkranke. Denn die Innensicht eines Kranken und die Außensicht des Gesunden stimmen selten überein, sagt der frühere Stuttgarter Hospizleiter Christoph Student. "Wenn wir einem schwerkranken Menschen begegnen, dann begegnen wir zuerst uns selbst, wir spüren unsere eigene Angst vor dieser Krankheit."
Sorgen und Arbeit hat man mit jedem Kind
Nur wenige erkunden, was der andere tatsächlich denkt und fühlt. Wenn man Torsten Krall fragt, worunter er leidet, sagt er: "Wir leiden unter Marits Krankheiten mehr als unter ihrer Behinderung. Ihr dauernder Husten belastet mich mehr, als dass sie nicht laufen kann."
Neulich dankte den Eltern jemand dafür, dass sie sich "so aufopferungsvoll" um ihre behinderte Tochter kümmerten. "Woher weiß der, dass ich mich aufopfere?" Astrid Krall ist empört. "Wenn man Kinder hat, hat man Sorgen und Arbeit auch - egal, ob das Kind behindert ist oder nicht."
Ja, sie sei nicht so mobil wie andere, aber sie sorge schon für sich. Sie geht gern und viel ins Kino - dann kommt eine Babysitterin. Sie macht mit ihrem Mann Städtereisen - dann sorgen die Großeltern für Marit. Und Torsten Krall fährt an freien Tagen einfach mal ein paar Stunden mit dem Motorrad über Land, um den Kopf freizukriegen.
Da bekommen sie schon mal zu hören: "Wie kann der Torsten Motorrad fahren, wo der doch so ein Kind hat." Und wenn die Familie in den Urlaub fliegt: "Wenn da was passiert!" Astrid Krall zuckt die Achseln: "Ja, dann passiert halt was. Das kriegen wir dann schon geregelt. Wir kommen Marits Bedürfnissen entgegen, aber sie muss auch in unsere Partnerschaft passen, und das tut sie."
Manches ist tatsächlich schwer
Natürlich ist nicht alles wunderbar. Das Ehepaar freut sich über Solidarität für das, was tatsächlich schwer ist: dass Astrid Krall ihren Beruf nicht ausüben kann; dass sie zu Hause "festgetackert" ist, wenn Marit krank ist; dass die Krankenversicherung nichts zahlt, bevor die Eltern nicht einen Aufstand machen, sich dann auch nur beteiligt und nur aus "Kulanz", etwa an der teuren Sitzschale, die an Marits Körper angepasst ist. Oder dass die Behindertenparkplätze regelmäßig zugeparkt sind, deren Extrabreite Astrid Krall braucht, um Marit auszuladen. Da kann sie richtig sauer werden.
Was dagegen guttut: Wenn die Freunde gemeinsame Urlaube vorschlagen. Oder wenn der ältere Nachbar ihr immer wieder seine Hilfe anbietet, ihr etwa Marit aus dem Auto hebt. So wie jüngst, als Astrid Krall schwanger war.
Ja, ein zweites Kind, ein Kind ohne Behinderung war immer ihre große Sehnsucht. Lang traute sich das Paar nicht. "Noch ein behindertes Kind, das wäre eine Nummer zu groß für mich", sagt Astrid Krall. Doch die Ärzte machten ihnen Mut.
Ashley: ein ähnlicher Fall in den USA
Auf die zudringlichen Fragen der anderen allerdings war die Schwangere nicht gefasst: Wie kann man da noch ein zweites Kind bekommen! Haben Sie alles untersuchen lassen? Ist denn alles in Ordnung? "Ja, so weit ist alles in Ordnung", sagte Astrid Krall. Mehr ging die Öffentlichkeit nicht an. "Aber ich hatte die ganze Zeit Angst. Mir ging es nicht einen Tag gut in der Schwangerschaft."
Jetzt ist Marit "die Große". Aber Inga kann schon mit drei Monaten mehr: Wenn sie auf den Bauch gelegt wird, stützt sie sich mit den Ärmchen ein bisschen hoch. Dafür kann Marit sich auf die Seite drehen, ein Erfolg langjähriger Krankengymnastik. Bald wird Inga die ältere Schwester überholen. Doch wachsen wird auch Marit. 17 Kilo wiegt sie jetzt, die Mutter kann sie nur noch mit Mühe tragen.
In den USA gibt es ein Kind, Ashley, schwerstbehindert wie Marit. Bis Ashley sechs war, konnten die Eltern sie problemlos im Arm tragen und auf Ausflüge mitnehmen. Doch Ashley wuchs und wuchs. Bald, so die Eltern, würde Ashley nur noch im Bett liegen und an die Decke oder auf den Fernseher schauen können. Dabei leide sie am meisten unter Langeweile und körperlichem Ungemach - sie weine schon, wenn ein Haar auf ihrem Gesicht lande.
Die Eltern, die Ärzte und ein Ethikkomitee entschieden, der Sechsjährigen die bisherige Lebensqualität zu erhalten: Um das Wachstum zu bremsen, gaben sie ihr hochdosierte Östrogene; um ihr Menstruationskrämpfe zu ersparen, operierten sie Ashley die Gebärmutter heraus; um ihr unbequemes Liegen und einschneidende Sitzhaltegurte zu ersparen, entfernten sie die Brustdrüsen.
Schule muss jedem Kind Bildung ermöglichen
Astrid und Torsten Krall k& uml;nnen die Entscheidung der amerikanischen Eltern verstehen. Die Mutter wird Marit bald nicht mehr vom Liegepodest in den Rollstuhl wuchten und dann mit sich in die Küche schieben oder von der Therapieliege auf den Schoß der Oma heben können - "das wird ein großer Verlust für Marit sein". Für einen Menschen, der auf körperliche Nähe angewiesen ist.
Trotzdem kommt eine solche Behandlung für die Kralls nicht in Frage. "Eine der Stärken Marits ist, dass sie mit sich eins ist", sagt Torsten Krall, "ich kann nicht unterscheiden, was Marits Persönlichkeit ist und was ein Aspekt ihrer Behinderung, den man ändern könnte. Undenkbar, dass wir da eingreifen." Die Eltern wollen Marit aus Respekt so wachsen lassen, wie sie ist. "Es wird schwerer. Aber das ist eben der Weg, der vor Marit und uns liegt."
Jetzt kommt Marit erst einmal in die Schule. Alle Kinder haben die Pflicht zum Schulbesuch. Und das Recht darauf. Doch auch auf der Förderschule wird Marit eines der am schwersten behinderten Kinder sein. Was soll sie da lernen? "Es ist nicht das Problem des Kindes, sondern der Schule, dem Kind Bildung zu ermöglichen", sagt Theo Klauß, Professor für Geistigbehindertenpädagogik in Heidelberg.
Etwa in "Deutsch". Da geht es um Sprache, um Kommunikation. Marit könnte lernen, schneller mit den Augen zu dem Menschen zu wandern, der sie gerade anspricht. In "Sport" könnte sie erkennen, wie unterschiedlich es sich anfühlt, ob sie im Rollstuhl sitzt, im Bällchenbad oder auf einer Schaukel. "So kann sich auch Marit ein Bild von der Welt machen", sagt der Professor. "Nichts anderes ist Bildung: sich ein Bild von der Welt machen."
Mit 19, 20 wird Marit aus dem Haus gehen
Auch wenn Marit in vielem auf dem Stand einer Viermonatigen bleiben wird, auch wenn sie wohl nie greifen und schon gar nicht sprechen lernen wird: mehr Welt wird sie trotzdem kennenlernen. "Die Erfahrung geht dann in die Breite, in die Reichhaltigkeit." Mit 20 Jahren wird sie eine andere sein als jetzt. Aber immer ein Pflegefall.
Astrid und Torsten Krall werden ihr Leben lang verantwortlich sein für Marit. Genauso selbstverständlich ist für sie aber auch, dass Marit mit 19, 20 aus dem Haus gehen wird. In eine spezialisierte Einrichtung. Sie haben erlebt, wie es einer behinderten Frau erging, die noch bei ihrer 85-jährigen Mutter lebte: Als die Mutter starb, konnte sich die Tochter nirgendwo mehr einfügen. Torsten Krall weiß seit seinem Zivildienst, dass Behinderte in der mehr fordernden als behütenden Umwelt eines Heims oft noch mal einen Entwicklungsschritt machen.
Noch aber haben die Eltern Marit bei sich und erfreuen sich an ihrem Wesen - auch wenn ihnen das kaum jemand glaubt: Ins Kinderfachgeschäft "Baby One" zu fahren, wo Schwangere die Erstausstattung kaufen, das sei schon die hohe Schule, sagen sie. "Wir beobachten ein gewisses Fluchtverhalten. Marit ist ,the worst case'. So schlimm wie ein totes Kind. Oder noch schlimmer."
Neulich im Park saßen sie neben einer älteren Frau auf der Bank. Man kam ins Gespräch. Zum Abschied sagte die Frau: "Ich wünsche Ihnen noch viel, viel Kraft. Jeder hat so sein Paket zu tragen." Astrid Krall murmelte gerade ein "Danke, aber uns geht es gut", da sagte die Frau: "Mein Sohn ist ermordet worden." Marit lebt, zum Glück.
Die Reportage ist im Oktober 2007 im evangelischen Magazin "chrismon" erschienen. Die Autorin Christine Holch ist Chefreporterin von "chrismon".