Sonntage geben dem Leben Rhythmus und Klang
Als ich Kind war, hatte das Leben einen Rhythmus, einen Klang und einen Geschmack. In meinem kleinen Dorf der fünfziger Jahre nahe Nürnberg konnte man den Werktag vom Sonntag unterscheiden und die Jahreszeiten riechen, schmecken, sehen und hören.
02.12.2009
Von Christian Nürnberger

Sonntags zogen meine Eltern ihre Sonntagskleidung an, ich wurde ebenfalls "schön angezogen" und durfte mich "nicht dreckig machen". Wir gingen in die Kirche, und durch die Dorfstraße wehten Bratendüfte. An Ostern und zur Kirchweih wurden die Häuser geschmückt, und der Posaunenchor gab ein Platzkonzert. In der Vorweihnachtszeit duftete es in allen Häusern nach Stollen und Plätzchen, an Karfreitag nach Narzissen und Hyazinthen, die man den Verstorbenen aufs Grab und nachts in die Friedhofskapelle stellte, um sie vor Frost zu schützen.

Letztes Zipfelchen einer jahrhundertealten Lebensform

Irgendwann, ungefähr ab dem Jahr 1968, hörte es mit dieser Einteilung der Zeit auf. Erst heute, Jahrzehnte später, wird mir bewusst, dass ich das Glück gehabt hatte, kurz vor dem Verschwinden einer ganzen Epoche noch deren letztes Zipfelchen eine Kindheit lang zu bewohnen. Es war die bäuerliche Lebensgemeinschaft, die da entschwand, eine jahrhundertealte Lebensform, die sich am Rhythmus der Jahreszeiten orientierte und das Kirchenjahr damit in Einklang gebracht hatte.
Illustration.

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Zu dieser Lebensform gehörte nicht nur der Wechsel, sondern auch eine Konstante, die alles zusammenhielt und das Werden und Vergehen überdauerte: der sonntägliche Kirchgang. Mochten die Jahreszeiten, die Ereignisse, Kaiser, Könige und Päpste wechseln, eines blieb konstant, eines blieb über Jahrhunderte so sicher wie das Amen in der Kirche: die regelmäßige Verehrung Gottes, und auch das Gebet der Mönche zu jeder vollen Stunde. Das ist nun lange vorbei. Viele Kinder von heute kennen keine festen Essenszeiten, kein Tischgespräch der Generationen, keinen Sonntag, keinen Werktag, keine Jahreszeit, nicht den Rhythmus von Arbeit und Fest, Anstrengung und Muße, kaum ein Kirchenlied, kaum ein Volkslied, aber dafür läuft ganztägig und ganzjährig der Fernseher, und aus den Radios und iPods tropft Tag und Nacht Pop und kleistert die Gehirne zu. Viele Kinder wachsen heran, ohne je an einer Taufe oder Trauung und den zugehörigen Festen teilgenommen zu haben. Heute scheint es eine Konstante, die alles zusammenhält und alles überdauert, nicht mehr zu geben.

Die neue Konstante: Werbeunterbrechungen

Tatsächlich aber gibt es eine neue Konstante, die so sehr zu unserem täglichen Leben gehört, dass sie uns gar nicht mehr auffällt. Aufgefallen ist sie den Amerikanern, als sie eines Tages plötzlich fehlte. Am 11. September 2001 ist im ganzen Land die Werbung im Fernsehen ausgefallen. Die Programme im Fernsehen wechseln, die Moderatoren, die Nachrichten und die Inhalte wechseln, Präsidenten kommen und gehen, Moden kommen und gehen, nichts ist mehr sicher, weder die Rente noch die Arbeit, noch das Einkommen, alles ist offen und unvorhersagbar, die Zeiten ändern sich immer schneller, nur eines ist so sicher wie das Amen in der Kirche: die Werbeunterbrechung.

Es ist sinnlos, das zu bejammern, denn die Ursachen liegen in jener Vergangenheit, die voreilig zu verklären immer eine Versuchung ist. Die Entwicklung begann, als die Bauern merkten, dass Kunstdünger dem Acker besser bekommt als Weihwasser. Die Industrialisierung und Mechanisierung erfasste auch die Landwirtschaft. Dort behielt man den Kirchgang aus Tradition - und auch wegen der fortbestehenden Abhängigkeit von Wind und Wetter - noch eine Weile bei. Die Industriearbeiter jedoch bewahrten zwar noch den Rhythmus von Werktag und Sonntag, aber gingen schon nicht mehr zur Kirche.

Warum auch? Die Kirche des 19. Jahrhunderts hatte das Proletariat erst dann entdeckt, als Karl Marx es schon darüber aufklärte, dass die Kirche in all den Jahrhunderten zuvor es stets mit den Mächtigen gehalten hatte und es auch diesmal wieder so sein würde.

Pop- und Freizeitindustrie füllen Vakuum

Den vorläufig letzten großen Schub in diesem Erosionsprozess besorgten wir, meine Generation der Achtundsechziger und Spätachtundsechziger, und zwar aus einem Schock heraus: dem Schock über unsere Väter und Großväter. Sie waren die Wähler, Helfer und Täter Hitlers. Sie waren die Ursache für zwei Weltkriege, den Holocaust, für Nationalismus, Militarismus, Antisemitismus und Faschismus. Was sollten wir noch mit ihren Volksliedern, Kirchenliedern, Traditionen, ihren Werten, ihren Tugenden, ihrer Lebensweise, ihrer rein formalen Sonntagsheiligung, ihrer inhaltsleeren Christlichkeit? Weg damit, bloß weg damit.

So verschwand nicht nur das "deutsche Liedgut" aus unseren Köpfen, sondern auch vieles andere, was für sich genommen erhaltenswert gewesen wäre, aber wegen seines politischen Missbrauchs entwertet war. Plötzlich gab es nur noch die Beatles und die Rolling Stones. Ob Weihnachten, Ostern oder Pfingsten, ob Geburtstag oder Karneval, Sonntag oder Werktag - immer spielten die Beatles oder Rolling Stones oder deren Epigonen. Und zu allem trugen wir Jeans und Parka. Das Alte hatten wir entsorgt.

Doch dann fanden wir nichts Neues. Es entstand ein Vakuum. Es wurde gefüllt von der Popindustrie, der Freizeitindustrie, dem Konsum, der Ökonomie überhaupt, und diese regiert inzwischen weltweit und so unangefochten, dass es ihr egal sein kann, wer unter ihr Bundeskanzler und Minister ist.

Das Rad der Geschichte zurückdrehen?

Meine Kinder wachsen nun in einer völlig anderen Welt auf als ich. Ich kannte noch die fernsehlose Zeit. Meine Kinder kennen, seit sie leben, nichts anderes als den "Programmvielfalt" genannten Einheitsbrei des Quotenfernsehens. Da sie nichts anderes kennen, empfinden sie die Werbeunterbrechung eines guten Kinofilms im Privatfernsehen nicht als Anschlag auf diesen Film, und den verkaufsoffenen Sonntag nicht als Rückfall in die Barbarei, sondern als willkommene Gelegenheit zum Shoppen. Man könne das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen, erklären mir die Siebengescheiten. Dabei sind wir doch Zeugen, Teilnehmer und Mittäter einer Rückdrehung um Jahrtausende, denn mit der Abschaffung des Sonntags kehren wir kulturhistorisch an jenen Punkt zurück, an dem sich einst eine kleine Steineklopfertruppe in Ägypten gefragt hatte, warum es eigentlich Herren und Knechte gebe.

Ihre Antwort: Es gibt keinen Grund dafür. Sie folgerten: Dann gibt es auch keinen Grund, dass wir uns hier für den Pharao zu Tode schinden lassen. Sie beschlossen: Wir hauen ab. Sie flohen in die Wüste und bauten eine Gegengesellschaft zum ägyptischen Sklavenhaus auf, über dessen bewunderungswürdige Kulturleistungen die Flüchtlinge kein Wort verloren, denn sie kannten den Preis: Es war ihr Schweiß, ihr Blut, ihre Gesundheit, ihr Leben. Kultur war immer nur möglich auf der Basis einer ausgebeuteten, selber von der Kultur ausgeschlossenen Masse - noch der Philosoph Friedrich Nietzsche hielt das für eine Art Naturgesetz. Jene ehemaligen Sklaven haben, als sie sich ihrer Fesseln entledigten, darüber nachgedacht, ob das stimmt. Und ihre Antwort war der Sabbat.

Am siebten Tag gehörten alle zur Oberschicht

Sechs Tage in der Woche arbeitete Israel. Ganz Israel. Es gab keine Oberschicht, die der Arbeit enthoben war. Sechs Tage in der Woche gehörte ganz Israel zur Unterschicht. Aber am siebten Tag gehörte ganz Israel zur Oberschicht, war jeder und jede Herr und Herrin, auch der Knecht und die Magd, ja sogar die Tiere: Am Sabbat erinnerte sich ganz Israel seiner Geschichte. Man erzählte einander, las in alten Texten, versammelte sich öffentlich. Keiner wurde ausgeschlossen. Bildung für alle war eine Nebenwirkung der gemeinsamen Sabbatheiligung. Durch sie lernte das Volk, dass es sich Voraussetzungen verdankt, die es selbst nicht geschaffen hat und selbst niemals schaffen kann.

Seitdem stehen der Sabbat und der Sonntag stellvertretend für alles Humane, alles Soziale, alles Recht, das der von Natur aus barbarischen Wirklichkeit seit dem Exodus abgetrotzt wurde und immer wieder neu abgetrotzt werden muss. Im jüdischen Sabbat und im christlichen Sonntag steckt eine Art Überlebenscode für Lebensgemeinschaften. Wer ihn abschafft, weil er dessen Sinn nicht mehr versteht, ihn als Wettbewerbshindernis betrachtet und als verlorenen Arbeitstag verrechnet, verrechnet sich fundamental und bringt sich um seine Zukunft.


 

 

Christian Nürnberger, Jahrgang 1951, ist Journalist. Er schreibt vieldiskutierte theologische Bücher, darunter: "Das Christentum. Was man wirklich wissen muss". Er lebt mit seiner Frau Petra Gerster und zwei Kindern in Mainz.

Der vorstehende Artikel ist zuerst im evangelischen Magazin "chrismon" erschienen.