Im April 2005 wurde Joseph Ratzinger, der gefürchtete römische Großinquisitor, an die Spitze der katholischen Kirche gewählt. Benedikt XVI. empfing die Huldigung des Boulevard ("Wir sind Papst!") und konnte anfangs auch Menschen für sich und seine Kirche einnehmen, die nicht unbedingt mit allen Weihwassern gewaschen waren. Doch dieses Nähegefühl, für das manche etwas Nachhilfe brauchten, ist längst einer Ernüchterung über den Kurs des ersten Deutschen auf dem Stuhl Petri seit der Reformation gewichen: Die Maßregelung kritischer Theologen, die Aufwertung der alten Liturgie und nicht zuletzt der Schmusekurs gegenüber der ultrakonservativen Pius-Bruderschaft haben am Ansehen Benedikts gekratzt.
Dass es fast fünf Jahre später nicht mehr ganz so schick ist, katholisch und papstfromm zu sein, spürt man auch in den Feuilletons und auf dem Buchmarkt. Überbot sich anfangs die veröffentlichte Meinung in der Begeisterung über den weisen Mann in Weiß, schleichen sich heute wieder kritische Untertöne in die Zeitungsspalten und zwischen die Buchdeckel. Benedikt XVI. hat sich nicht nur durch sein gelegentlich ungeschicktes kirchenpolitisches Agieren angreifbar gemacht, sondern auch als Wissenschaftler: Sein Jesus-Buch stieß in der Forschung nicht eben auf Gegenliebe, einzelne wohlmeinende Kommentare waren weniger dem theologischen Gehalt des Werks als dem Respekt vor dem Amt des Verfassers geschuldet.
Eilfertige katholische Publizisten
Alan Posener steht als Protestant mit britisch-jüdischen Wurzeln nicht im Verdacht, zu viel Respekt vor dem katholischen Kirchenoberhaupt zu haben. Der "Welt"-Redakteur bündelt in seinem Buch das Unbehagen über die Politik des Vatikan, spitzt es zu und wirft dem Papst einen Kreuzzug gegen die Moderne vor – die "benedettinische Wende", so die prägnante These, ziele letztlich gegen die Demokratie und bedeute eine "massive Umdeutung der Geschichte und eine Umwertung aller Werte". Das klingt nach Nietzsche, aber für Posener ist Gott keineswegs tot, obwohl ihn eilfertige katholische Publizisten schon bald nach Erscheinen von "Benedikts Kreuzzug" in die Nähe des aggressiven Atheismus zu rücken versuchten.
Doch man muss kein Anhänger von Richard Dawkins oder anderen ebenso gottfernen wie wortgewaltigen Theoretikern sein, um angesichts der Fülle von Argumenten und Zitaten, die Papstfeind Posener parat hat, um seine These von der Gefahr aus dem Vatikan zu untermauern, ins Grübeln zu kommen. Alles verdreht, fehlinterpretiert, aus dem Zusammenhang gerissen, wie Kritiker monieren? Der Autor setzt beim Kampf gegen die "Diktatur des Relativismus" an, dem "Hauptthema im Denken und Wirken Joseph Ratzingers". Und er verteidigt den für das Funktionieren der Demokratie unabdingbaren Wertepluralismus gegen den Anspruch der Kirche, nur sie allein könne letztgültige Wahrheiten festlegen.
"An seinem Wesen soll die Welt genesen"
Folgerichtig zeichnet Posener in die intellektuelle Ausprägung des vormaligen "Panzerkardinals" Ratzinger eine konsequent demokratiekritische Linie hinein. "Am Wesen des deutschen Papstes soll die Welt genesen", heißt es polemisch. Besonders empört ist der streitbare Publizist über die Haltung Benedikts XVI. zum Massenmord an den Juden im Zweiten Weltkrieg. Die "Entschuldung der Täter bei gleichzeitiger Unempfindlichkeit gegenüber den Opfern" habe bei Ratzinger Methode. Dessen Rede im vormaligen Vernichtungslager Auschwitz im Mai 2006 sei ein Skandal sondergleichen gewesen, er habe die Toten "missbraucht" und jede kirchliche Mitschuld an den Verbrechen ausgeblendet.
Diese harsche Interpretation muss man nicht in allen Zügen teilen, doch aus der Sicht Poseners schließt sich die päpstliche Milde gegenüber den Piusbrüdern, unter denen es bekanntlich nicht wenige Antisemiten gibt, nahtlos an Ratzingers "Unempfindlichkeit" in Sachen Judenfeindschaft an. Eine "unterirdische Verbindung" und "heimliche Sympathie" gebe es zwischen Benedikt XVI. und den Ultrakonservativen, so die spitze Vermutung des Buchautors, als er jüngst ins "Philosophische Quartett" des ZDF gebeten wurde, um mit Peter Sloterdijk, Rüdiger Safranski und dem FAZ-Redakteur Daniel Deckers über "Benedikts Kreuzzug" zu diskutieren.
Mit heißer Nadel gestrickt
Gegen Poseners These, der Papst politisiere die Kirche in gefährlicher Manier, gab es in der Runde kaum Widerspruch. Doch schösse eine Streitschrift nicht da und dort übers Ziel hinaus, hätte sie ihr Anliegen verfehlt. Zu den schwächeren Passagen im Buch zählen jene, in denen Posener dem Bayern auf dem Papstthron eine besondere Nähe zum Kreationismus oder gar eine heimliche Koalition mit radikalen Islamisten attestiert. Schal sind auch die Angriffe des Autors in Sachen Aids und Kondome. Manches in dem 250-seitigen Werk ist erkennbar mit heißer Nadel gestrickt: In einigen Anmerkungen (70, 180) stehen noch Arbeitsnotizen Poseners. Da hätten er und das Lektorat ruhig etwas sorgfältiger sein können.
Ungeachtet dessen macht die Grundthese nachdenklich: Benedikt XVI. denke in Machtkategorien, es gehe um einen "geistigen Kreuzzug, damit Europa wieder christlich-katholisch wird", so der Autor im ZDF. "Damit die letzte Instanz in Politik und Gesellschaft die Kirche wird." Das sei ein gewaltiges Programm – und es betreffe keineswegs nur die Katholiken, sondern alle Menschen. Der "Welt"-Redakteur selbst hingegen hegt nach eigenen Angaben eine große Sympathie für die katholische Kirche. Vor zehn Jahren legte er in der renommierten rororo-Reihe eine Biografie über die Maria vor, in der er die Jungfräulichkeit von Jesu Mutter nachdrücklich verteidigte. Sein neuestes Werk hingegen ist weniger fromm geraten.
Alan Posener: Benedikts Kreuzzug. Der Angriff des Vatikans auf die moderne Gesellschaft, Berlin 2009. Ullstein, 269 Seiten, 18 Euro.
© für das Autorenfoto: Jenny Posener