Philosophie: Sogar Kant war für die Todesstrafe
Warum richten Menschen Menschen hin? Und warum befürworteten Philosophen die Todesstrafe? Philosophie-Dozent Hans-Joachim Pieper gibt Antworten und erläutert auch, warum die Todesstrafe oft religiös begründet wird.
30.11.2009
Von Henrik Schmitz

Evangelisch.de: Warum gibt es eigentlich so etwas wie die Todesstrafe? Befriedigt sie das Bedürfnis nach Rache?

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Hans-Joachim Pieper: Wir müssen letztlich zwei Phänomene unterscheiden: die Ursache und den Ursprung der Todesstrafe und die Gründe für die Todesstrafe. Der Ursprung der Todesstrafe ist dabei sicher in archaischen Gefühlen zu finden, dazu zählt auch das Bedürfnis nach Rache. Aber auch andere Gefühle spielen eine Rolle, etwa Angst vor weiteren Gewalttaten oder Angst vor dem Zorn der Götter, wenn ein Vergehen nicht geahndet wird. Das hat es in menschlichen Gemeinschaften schon immer gegeben. Von Strafe kann man aber erst sprechen, wenn durch eine Handlung ein Verstoß gegen anerkannte Normen geahndet werden soll. Dass man dafür auf die Todesstrafe zurückgreift, kann verschiedene Gründe haben, in denen sich die genannten Gefühle in einer rationalisierten Form wiederfinden lassen.

Evangelisch.de: Was für Gründe sind das?

Pieper: Es geht um die Absicht, sich gegen Rechtbrecher zu verteidigen. Das Prinzip der Abschreckung ist ein Grund für die Todesstrafe. Ein anderer ist die Intention, die Forderung nach Genugtuung zu befriedigen. Diese Forderung kann von Menschen erhoben werden, aber – in früheren Zeiten – auch von Göttern. Auch der Wunsch nach Gerechtigkeit ist ein wichtiger Grund dafür, die Todesstrafe einzuführen.

Evangelisch.de: Leistet die Todesstrafe denn, was sie verspricht? Etwa auch Trost für die Angehörigen der Opfer von Gewalttaten?

Pieper: Über manche Fragen müsste man letztlich statistisch entscheiden, etwa darüber, ob die Todesstrafe wirklich abschreckend ist. Was den Trost angeht, so muss zunächst festgehalten werden, dass es nicht Aufgabe eines Rechtssystems ist, das Trostbedürfnis von Bürgern zu befriedigen. Es scheint mir aber ohnehin nicht um Trost zu gehen. Angehörige von Opfern versprechen sich von der Todesstrafe eher Gerechtigkeit. Sie sind der festen Überzeugung, dass das Verbrechen, das einen Angehörigen getroffen hat, nicht ungesühnt bleiben darf. In der Forderung nach Todesstrafe drückt sich die Verzweiflung über eine ungerechte Welt aus, in der das, was ihnen geschehen ist, nicht auch den treffen soll, der ihnen das angetan hat.

Evangelisch.de: Wie könnte denn eine Bestrafung aussehen, die Angehörigen auch Trost vermittelt?

Pieper: Trösten könnte die Angehörigen zunächst einmal, dass man ihren Schmerz, ihre Verzweiflung und Wut sowie die Forderung nach Vergeltung ernst nimmt und anerkennt, dass sich in diesen Forderungen nachvollziehbare Gründe für die Todesstrafe ausdrücken. Man müsste anerkennen, dass diese Forderung einen ehrbaren Grund hat, dass nämlich ein Menschenleben etwas ganz Einzigartiges ist und dass ein Mord - die Zerstörung eines Menschenlebens - ein ganz ungeheuerliches Geschehen darstellt. Wenn es nun gelänge, im Täter diese Überzeugung von der Einzigartigkeit des Menschenlebens zu wecken, dann könnte dies dazu führen, dass der Täter darauf verzichtet, in Zukunft vergleichbare Taten zu begehen. Wenn er wirklich bereut, könnte er vielleicht sogar Verzeihung bei den Angehörigen finden. Ich kann mir vorstellen, dass eine solche Verzeihung aufzubringen etwas wirklich Tröstendes sein kann für einen Menschen, der einen anderen durch ein Gewaltverbrechen verloren hat. Aber das ist etwas, was eine ungeheure Selbstüberwindung verlangt und was man von keinem Hinterbliebenen verlangen kann, sondern was er sich nur selbst auferlegen kann.

Evangelisch.de: Warum wird die Todesstrafe oftmals auch religiös begründet und findet vor allem in religiösen Kreisen großen Zuspruch?

Pieper: Dass die Todesstrafe religiös begründet wird, hat zum einen historische Gründe. Die Entstehung von Religionen und die Entwicklung von Rechtssystemen fallen beide in die frühesten Phasen der Entstehung menschlicher Gesellschaftsformen und sind von daher miteinander verbunden. Götter treten ursprünglich oft als strafende oder drohende Götter auf und umgekehrt werden Rechtsnormen häufig dadurch legitimiert, dass sie als göttlicher Wille verkündet und akzeptiert werden. Das sind allerdings eher Ursachen als Gründe.

Evangelisch.de: Und was sind die Gründe?

Pieper: Die Todesstrafe stellt so etwas wie eine metaphysische Bestrafung dar. Wir entscheiden, wenn wir über Leben und Tod entscheiden, über etwas, das unser Fassungsvermögen übersteigt. Wir spüren dabei intuitiv, dass es nicht genügt, die Todesstrafe rational zu legitimieren. Wir suchen nach einer höheren Legitimation und können diese nur durch den Ausgriff auf ein göttliches Prinzip gewinnen. In der Verhängung der Todesstrafe haben wir den Eindruck, in göttliche Machtbefugnisse einzugreifen. Daher liegt es nahe, sich auch auf religiöse Aspekte zu beziehen.

Gefahr des Missbrauchs

Evangelisch.de: Besteht dabei nicht die Gefahr des Missbrauchs eines angeblich göttlichen Willens?

Pieper: Tatsächlich kann die Todesstrafe in Systemen, in denen man glaubt, sich einer göttlichen Legitimation sicher sein zu können, auch als Machtdemonstration eingesetzt und benutzt werden. Ein System, das meint, seine Herrschaft von Göttlichem ableiten zu dürfen, kann sagen: Wir müssen nicht einmal vor der Todesstrafe zurückschrecken, denn wir vollstrecken nur die Gesetze Gottes. Die Vollstreckung der Todesstrafe ist schließlich eine Form der allerhöchsten Machtausübung.

Evangelisch.de: Die Bibel ist in Sachen Todesstrafe uneindeutig. Im Alten Testament findet sich etwa das Prinzip "Auge um Auge", während im Neuen Testament die Nächstenliebe betont wird. Wie bewerten Sie die Bibel in diesem Fall?

Pieper: Tendenziell glaube ich, dass dem christlichen Glauben insgesamt die Ablehnung der Todesstrafe eher zu entnehmen ist als das Gegenteil. Aber in der Tat ist die Bibel nicht eindeutig, allein im Alten Testament gibt es verschiedene Aussagen. Es gibt das Talionsprinzip "Auge um Auge", aber auf der anderen Seite wird Kain für den Brudermord nicht mit dem Tode bestraft. Das Talionsprinzip ist aber auch eher limitierend zu verstehen. Es legt fest, was allerhöchstens gefordert werden kann, schreibt aber nicht vor, was gefordert werden muss. Das Neue Testament mit der Botschaft der Vergebung, der Nächstenliebe und gar der Feindesliebe spricht sicher eher für eine klare Ablehnung der Todesstrafe.

Evangelisch.de: Welche Lehren ziehen Sie aus der Bibel in Sachen Todesstrafe?

Pieper: Ich möchte mir keine Aussagen über die richtige Auslegung der Bibel oder die theologisch richtige Haltung zu dieser Frage anmaßen. Aus meiner philosophischen Perspektive möchte ich zu bedenken geben, dass vor dem Hintergrund eines Auferstehungsglaubens die menschliche Gerichtsbarkeit eben nicht die letzte Gerichtsbarkeit darstellt. Daraus resultiert, dass die Todesstrafe für jemanden, der an ein Leben nach dem Tode glaubt, keine endgültige Strafe ist. Das entlastet alle Beteiligten in diesem Verfahren: den Delinquenten, weil er Aussicht hat, im Jenseits Verzeihung zu finden, aber auch die Angehörigen der Justiz, die sich befreit fühlen können, weil sie nicht die letzten sind, die über Schuld und Unschuld zu entscheiden haben. Dem steht gegenüber, dass alle Beteiligten sich in einem weiteren Verfahren ihrerseits zu verantworten haben, dass sie dereinst vor ihren Richter treten und dort ihre Entscheidung verantworten müssen. Daraus lässt sich meiner Meinung nach die Konsequenz ableiten, dass es, wenn es um die Todesstrafe geht, von unvergleichlicher Bedeutung ist, stets mit äußerster Gewissenhaftigkeit zu entscheiden und stets der eigenen Verantwortung eingedenk zu handeln. Dem kann man die Tendenz entnehmen, wann immer es geht, im Sinne des Prinzips der Nächstenliebe zu handeln und die eigene Menschlichkeit als eine Mahnung zu begreifen, sich in Fragen, in denen es um Leben und Tod geht, bescheiden und demütig zu verhalten – also auch gegen die Todesstrafe.

Philosophen zur Todesstrafe

Evangelisch.de: Welche Gedanken haben sich Philosophen zu dem Problem der Todesstrafe gemacht?

Pieper: In der Gegenwart findet eine philosophische Auseinandersetzung mit dem Thema kaum statt. Das ist bedauerlich, liegt aber zumindest in Europa daran, dass die Todesstrafe hier inzwischen keine Rolle mehr spielt. Die Klassiker die Philosophie haben sich erstaunlicherweise nahezu einhellig für die Todesstrafe ausgesprochen, zum Beispiel Immanuel Kant. Wenn man bedenkt, dass wir uns heute oft auf philosophische Prinzipien wie Kants Prinzip der Menschenwürde berufen, ist das doch sehr verstörend.

Evangelisch.de: Welche Gründe sprechen denn den klassischen Philosophen zufolge für die Todesstrafe?

Pieper: Ich berufe mich vor allem auf klassische Autoren der Philosophie seit Beginn der Aufklärung. Dort finden sich im Wesentlichen drei Argumente für die Todesstrafe. Zum einen findet sich das Argument Notwehr und Abschreckung. Die Gesellschaft habe das Recht, sich gegen Angriffe zu verteidigen, meint etwa der englische Philosoph John Locke. Ein weiterer Aspekt ist die Genugtuung für die Gemeinschaft. Dabei wird unter anderem das Talions-Prinzip ins Feld geführt, vertreten unter anderem von Immanuel Kant. Bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel spielt vor allem die Idee der Gerechtigkeit eine Rolle. Diese Idee verlangt, dass eine Rechtsverletzung beseitig werden muss, um das Recht wieder herzustellen. Es geht also nicht darum, Genugtuung zu leisten, sondern ausschließlich darum, das Rechtsprinzip wieder in Kraft zu setzen, nachdem es durch einen Straftäter gebrochen worden ist.

Evangelisch.de: Das Prinzip der Genugtuung wirkt eher archaisch. Wie erklären Sie, dass ein so rational denkender Mensch wie Kant dieses Prinzip bei der Frage der Todesstrafe vertreten hat?

Pieper: Es gibt durchaus rationale Argumente, dieses Prinzip anzuwenden. Strafe sollte laut Kant in genauer Korrelation zum begangenen Verbrechen stehen. Nur mit dem Widervergeltungsprinzip könne aber ein einheitliches Strafmaß gefunden werden. Zwar bringt auch Kant die Möglichkeit der Substitution ins Gespräch, so dass nicht in allen Fällen "Auge um Auge" gelten muss, diese Möglichkeit sieht er aber bei Mord nicht gegeben. Mord ist nicht wieder gut zu machen. Nichts entspricht dem Leben eines Menschen, außer wiederum ein Leben. Also muss der Mörder sein Leben geben. Darin drückt sich der Respekt vor der Einzigartigkeit des menschlichen Lebens aus. Ein weiteres Argument ist, dass die Idee der Gerechtigkeit voraussetzt, dass der Straftäter im Besitz eines freien Willens handelt und dadurch selber ein Gesetz aufgestellt hat. Wenn man ihn nun so behandelt, wie er andere behandelt hat, also ihn hinrichtet, dann befolgt man eigentlich nur das Gesetz, das er selbst vorgegeben hat. Das nicht zu tun würde laut Hegel bedeuten, dem Verbrecher nicht Recht widerfahren zu lassen. Der Verbrecher hat ein Recht darauf, nach seinem eigenen Gesetz abgeurteilt zu werden und als Vernunftwesen ernst genommen zu werden. Das geschieht, wenn man sein Gesetz, dass man töten darf, auf ihn selbst anwendet.

Evangelisch.de: Gibt es auch Philosophen, die die Todesstrafe insgesamt kritischer gesehen haben?

Pieper: Der vielleicht interessanteste Philosoph, der sich mit der Todesstrafe befasst hat, ist der deutsche Philosoph Johann Gottlieb Fichte, der um 1800 erstaunlich moderne Gedanken formuliert hat. Grundsätzlich folgt er dem Prinzip der Genugtuung und der Idee der Gerechtigkeit. Aber er ist der Auffassung, dass das Rechtssystem die Funktion hat, die Sicherheit und Freiheit aller Bürger zu gewährleisten. Verletzt jemand ein Rechtsprinzip, stellt er sich damit außerhalb der Gesellschaft und kann nur wieder aufgenommen werden, wenn er seine Straftat abgebüßt hat. Die Möglichkeit der Abbüßung einer Straftat findet auch bei Fichte eine Grenze bei Mord. Das Rechtssystem ist aber nicht befugt, jemanden umzubringen. Das Äußerste ist, ihn aus der Gesellschaft auszuschließen. Damit endet dann das Rechtsverhältnis zwischen ihm und dem Staat. Interessant ist dieses Konzept deshalb, weil es besagt, dass es keine rechtliche Handhabe für die Todesstrafe gibt.

Das Prinzip der Moralität

Evangelisch.de: Und was geschieht mit jemandem, der aus der Gesellschaft ausgeschlossen worden ist?

Pieper: Fichte räumt ein, dass es die Möglichkeit gibt, zum Mittel der Notwehr zu greifen und so einen Menschen umzubringen. Es gibt aber nach Fichte auch die Möglichkeit, das Prinzip der Moralität anzuwenden. Dieses besagt, dass man sich darum bemühen soll, jeden Menschen zu einer moralischen Gesinnung zu führen. Diese Forderung kann der Straftäter nicht an den Staat stellen, aber diese Forderung kann eine Gesellschaft an sich selbst stellen. Moralität an jemandem üben hieße, ihn leben zu lassen und ihm die Möglichkeit zu geben, seine Taten zu bereuen und sich zu einem einsichtsvollen Bürger zu läutern. Man könnte dieses Prinzip auch das Prinzip der Humanität nennen. Wenn die Sicherheit der Gesellschaft gewährleistet ist, verzichten wir auf die Todesstrafe, um nicht noch mehr Leid zu schaffen, als bereits geschehen ist. Und um keine unwiderruflichen Irrtümer zu begehen. Letztlich wäre das vielleicht auch ein schwacher Trost für die Angehörigen, wenn der Täter Reue zeigen könnte und sich zu einem moralisch wertvollen Mitglied der Gesellschaft zu entwickeln vermöchte.

Evangelisch.de: Wie bewerten Sie die aktuelle Praxis der Todesstrafe vor diesem Hintergrund?

Pieper: Mit der heutigen Praxis des Strafvollzugs etwa in den USA lässt sich das Prinzip der Moralität nicht in Ei klang bringen. Dieses System ist wenig darauf angelegt, Ergebnisse einer Läuterung ins Kalkül zu ziehen. Denken Sie etwa an den Fall Romell Broom aus Ohio. Er wurde 1994 verurteilt, also vor 25 Jahren. Dass ein so altes Urteil dennoch vollstreckt wird, ohne dass auf eine Veränderung des Charakters des Menschen Bezug genommen wird, widerspricht dem Prinzip der Moralität. Die Praxis etwa in den USA steht auch nicht in Einklang mit dem bloßen Rechtsprinzip, denn in der Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe spielen oft andere Dinge eine Rolle, wie etwa Rassismus. Für mich bleibt aber die Fehlbarkeit und Unvollkommenheit des Menschen und seiner Gerichtsbarkeit der wichtigste Einwand gegen die Todesstrafe. Diese ist eine Angelegenheit, in der man sich eigentlich keine Fehler erlauben darf.


Hans-Joachim Pieper ist Professor für Philosophie und lehrt in Bonn. Er ist Autor des Buches "Hat er aber gemordet, so muß er sterben. Klassiker der Philosophie zur Todesstrafe" (Bonn 2003).

Henrik Schmitz ist Redakteur bei evangelisch.de und betreut die Ressorts Kultur und Medien.