Wenn der Brieffreund hingerichtet wird
Gabi Uhl hat sehr spezielle Brieffreunde: Mörder. Sie schreibt Menschen, die in Texas im Todestrakt sitzen. Zweimal hat sie erlebt, wie ein Freund hingerichtet wurde.
30.11.2009
Von Henrik Schmitz

Clifford Boggess stirbt an seinem 33. Geburtstag. "Ich liebe euch", sagt er noch zu seinen Freunden, dann dreht er den Kopf zur Seite. Drei Chemikalien fließen über eine Kanüle, die zuvor ein Justizbeamter gelegt hat, in seinen Körper. Das erste Mittel betäubt ihn; er schläft ein. Das zweite Mittel lähmt seine Atemmuskeln. Ein leises, schnarchendes Rasseln ist zu hören, als die Luft aus seinen Lungen entweicht. Das dritte Mittel lähmt sein Herz. Niemand weiß, ob Clifford Boggess Schmerzen hat, als das Gift durch seine Adern strömt. Niemand weiß, was seine allerletzten Gedanken sind, bevor er stirbt. Ob er die Gesichter der beiden Männer sieht, die er brutal getötet hat. Das Gesicht seiner Mutter, die ihn verstoßen hat als er eineinhalb Jahre alt ist und die später selbst ermordet wurde. Oder ob sein eigenes Leben noch einmal an ihm vorbei läuft. Ein Leben ohne Elternhaus. Ein Leben voll Drogen und Gewalt. Ein Leben voll Schuld. Ein Leben, das sich ab seinem 21. Lebensjahr in der Todeszelle abspielte.

Vier Minuten liegt Cliff Boggess leblos festgeschnallt auf einer Liege, in einem blau gestrichenen Raum, kaum größer als drei Quadratmeter. "Vier Minuten können eine Ewigkeit sein", sagt Gabi Uhl, die den Tod ihres Freundes Clifford auf der anderen Seite des Raumes, hinter einer Glasscheibe, beobachtet hat. Die bei ihm war in seinen letzten Minuten. Erst ein Arzt beendet die Ewigkeit. Er betritt den Raum, untersucht Clifford Boggess und erklärt ihn schließlich für tot: Am 11. Juni 1998 um 18.21 Uhr. Clifford Boggess ist der 153. Mensch, der in Texas seit Wiedereinführung der Todesstrafe hingerichtet worden ist.

Gabi Uhl sitzt in ihrem Arbeitszimmer in Taunusstein in der Nähe von Wiesbaden. An einer Wand steht ein elektronisches Klavier, im Regal liegen eine Klarinette, eine Gitarre und Bücher über Israel, Religion und Johann Sebastian Bach. An den Wänden hängen Bilder, die mit "Cliff" signiert sind. Eines zeigt ein zu einem Henkersknoten gewickeltes Bettlaken, das an einem Gitter befestigt ist. "Flucht aus dem Todestrakt", hat Cliff das Bild genannt, sagt die 47-Jährige. "Der Tod war für ihn der einzige Weg, aus der Todeszelle zu entkommen."

"…der Tod ist nur eine Tür für mich. Meine Zeit im Gefängnis, meine Zeit des Leidens, meiner Freiheit beraubt, wird vorbei sein! Ich bin ein Bürger des Himmels! Diese Welt ist NICHT mein Zuhause. … Der Himmel ist mein Zuhause…Und ICH werde im Himmel sein. Mein Körper wird nicht mehr gebraucht werden." – Clifford Boggess in einem Brief an Gabi Uhl, 25. Januar 1998

Todesstrafe im Religionsunterricht

Die Freundschaft zwischen Gabi Uhl und Clifford Boggess beginnt 1997. Und wenn man so will, hat sie ihren Ausgangspunkt in Wien an einem sonnigen Tag vor Schloss Schönbrunn. "Eine Freundin hatte damals bereits eine Brieffreundschaft mit Cliff", sagt Uhl. "Angestoßen durch einen Pfarrer, der das Thema Todesstrafe mit ihrer Klasse im Religionsunterricht besprochen hatte. Kurz vor ihrem 18. Geburtstag waren wir gemeinsam in Wien, sie redete von Cliff und sagte zu mir, dass sie ihn gern einmal besuchen würde. Drei Monate später kam die Nachricht, dass die letzte Berufung abgelehnt worden war und nun mit einem baldigen Hinrichtungstermin zu rechnen sei. Ich habe meiner Freundin dann eigentlich ohne darüber nachzudenken angeboten, mit ihr nach Texas zu fliegen."

Der Mensch, der ihr in Texas, stets getrennt durch eine Glasscheibe, begegnet, interessiert Uhl, obwohl sie sich dessen schrecklicher Taten bewusst ist und diese auch in keiner Weise beschönigt. Aber irgendwie beeindruckt Clifford Boggess sie. Er sei einer der sanftesten Menschen gewesen, den sie jemals kennengelernt habe, sagt Uhl und nickt dabei, als müsse sie sich ihre Aussage, die ein wenig unglaublich klingt, selbst bestätigen. Vor allem aber habe einiges, was er an Gedanken über seine Kindheit geäußert habe, sie an eigene Gedanken erinnert.

Zurück in Deutschland beginnt sie daher, Cliff, wie sie ihn nennt, zu schreiben. "Als dann der dritte Brief kam, hatte ich damals den Eindruck, dass Cliff mich besser versteht als jeder andere." Sie schreiben von dem, wovon Freunde sich eben schreiben. Von Ängsten und Sorgen, Hoffnungen und Plänen, Gedanken über die eigene Kindheit und Jugend, aber auch über den ganz gewöhnlichen Alltag. Ungewöhnlich nur dadurch, dass in Deutschland eine Lehrerin für Musik und Religion schreibt und etwa 8.000 Kilometer entfernt ein Häftling aus einem Todestrakt in Texas antwortet. Als Cliff sie in einem Brief bittet, bei der Hinrichtung dabei zu sein, sagt Uhl zu. "Ich wollte nicht, dass Cliff bei seiner Hinrichtung nur von Menschen umgeben ist, die ihn tot sehen wollen, sondern auch von Freunden. Ich wollte ihm seinen Wunsch erfüllen."

"Aufgrund spezieller Regeln in meinen letzten Tagen, werde ich einige Besuchsstunden extra bekommen und könnte Euch alle gleichzeitig sehen, wenn ihr hier wäret. Kannst Du in der Schule freibekommen und herkommen, um mich zu besuchen in der Zeit? Würdest Du das wollen? – Und möchtest Du eine der Personen sein, die meine Hinrichtung beobachten?" – Clifford Boggess in einem Brief an Gabi Uhl, 15. April 1998

Vier Besuche vor der Hinrichtung

Viermal sieht Uhl ihren Brieffreund noch, bevor er hingerichtet wird. Weil sie nicht nur Religion, sondern auch Musik unterrichtet, singt sie mit ihrer Freundin und Cliff zusammen im Gefängnis. "Heaven is a wonderful place" ist eines der gemeinsamen Lieder. Cliff selbst habe keine Angst gehabt, sagt Uhl. "Er war im Gefängnis ein sehr gläubiger Mensch geworden und sagte zu uns immer: ,Bald bin ich im Paradies.’. Für mich gibt es auch keinen Zweifel daran, dass Cliffs Veränderung echt war und er seine Taten wahrhaftig bereut hat. Cliff hatte eigentlich nur Angst um uns und sorgte sich, wie wir mit der Situation fertig werden würden." Eine Angst, die Uhl damals teilte. "Ich habe mich schon gefragt, was das mit mir macht. Ich hatte noch nie einen Menschen sterben sehen."

Das Sterben im Hinrichtungsraum in Huntsville in Texas ist zunächst einmal ritualisiert. "Ich hatte das Gefühl, dass wirklich jeder einzelne Handgriff vorher festgelegt ist." Um 17.15 Uhr begibt Uhl sich mit ihrer Freundin zum Verwaltungsgebäude des Gefängnisses. Wärterinnen durchsuchen die beiden, damit sie keine verbotenen Gegenstände ins Gefängnis schmuggeln. Zwei Bodyguards begleiten die beiden Frauen von nun an. Zunächst müssen sie in einem Raum warten, dann geht es vorbei an Kameras und einigen wenigen Demonstranten vom Verwaltungsgebäude auf die gegenüberliegende Straßenseite in das Gebäude, in dem die Hinrichtungen stattfinden. Wieder warten. Gegen 18.15 Uhr betreten die beiden Frauen den schmalen engen Zeugenraum, der allein durch eine Glasscheibe getrennt an den Hinrichtungsraum grenzt. Cliff Boggess liegt dort bereits festgeschnallt. Er hat die weiße Gefängniskleidung an und trägt hellbraune Wildlederschuhe. Als er die Freundinnen sieht, lächelt er. "Er hat richtig gestrahlt", sagt Uhl. "Meine eigenen Gesichtszüge waren eingefroren." Nachdem er seine letzten Worte gesprochen hat, strömt das Gift in seine Adern.

"Ich möchte meine Freunde an mein Zuhause im Himmel erinnern, so dass sie nicht so sehr um mich trauern müssen. Aber sie werden wohl dennoch traurig sein, weil ich nicht mehr da bin und wir nicht mehr miteinander kommunizieren können, wie Du es gesagt hast. Aber eines Tages, sehr bald, werden wir uns alle wiedersehen, uns umarmen, reden, aneinander Anteil nehmen und alles wird wunderbar sein dann." – Clifford Boggess in einem Brief an Gabi Uhl, 8. Februar 1998

"Die Erfahrung hat mich nicht mehr losgelassen", sagt Uhl. "Es gibt Menschen, die das Thema Todesstrafe für sich beenden, wenn sie einmal eine Hinrichtung erlebt haben. Aber für mich hat es an der Stelle erst richtig angefangen." Die Frau mit den langen, braunen Haaren saugt geradezu alles auf, was zum Thema Todesstrafe veröffentlicht wird. Im Wohnzimmer steht ein ganzes Regal mit Büchern über Todesstrafe, daneben liegen Kinofilme wie "Dead Man Walking" oder "The Green Mile". In Aktenordnern sind die Briefe verwahrt, die sie Cliff geschrieben hat und die er ihr geschrieben hat. Und die Briefe von anderen Häftlingen aus dem Todestrakt.

Neuer Brieffreund

"Eigentlich wollte ich zunächst niemandem mehr schreiben, der in der Todeszelle sitzt", sagt Uhl. Nach der Hinrichtung Clifford Boggess’ nahm sie jedoch Kontakt zu einer Frau aus Bonn auf, die ebenfalls Briefkontakt zu sogenannten Todeskandidaten hatte. Kurz vor der geplanten Hinrichtung eines dieser Brieffreunde, entschloss sich Uhl dann doch, noch einmal zu schreiben. "Ich wusste, dass Cliff sich immer sehr über Post gefreut hatte, und ich wollte diesem Mann vor seinem Tod noch eine Freude machen. Als die Hinrichtung dann wieder aufgehoben wurde, wollte ich den Briefkontakt aber auch nicht wieder abbrechen." Weitere Brieffreunde folgen. Bis heute hat Uhl mit insgesamt sechs Menschen Briefkontakt gehabt, die in der Todeszelle sitzen oder gesessen haben. Einmal noch, bei ihrem Brieffreund Kevin Kincy, war sie auch wieder bei der Hinrichtung dabei.

Warum sie ausgerechnet Menschen schreibt, die sterben werden? "Solange die Hinrichtung nicht direkt angesetzt ist, nehme ich das gar nicht so wahr", sagt Uhl. Nur wenn ihre Freunde dann tot seien, falle sie in ein Loch, sagt sie. "Wenn keine Briefe mehr kommen, wird es reeller." Wie sie damit fertig wird, dass ihre Freunde sterben? Sie habe in der Kindheit gelernt, Gefühle zu kontrollieren, sagt Uhl. "Ich habe mich sogar manchmal gefragt, ob ich gefühllos bin. Aber es gab dann immer wieder doch die Momente, in denen die Tränen kamen."

Die Tränen kommen immer wieder mal. Einmal, als Uhl ein halbes Jahr nach Clifford Boggess’ Hinrichtung doch noch ein Stück Geburtstagskuchen isst, so wie Cliff es sich eigentlich für den Tag seiner Hinrichtung gewünscht hatte. Und ein anderes Mal, als sie das Musical "Jesus Christ Superstar" besucht und die Kreuzigungsszene dort ausgerechnet als Hinrichtung mit der Giftspritze inszeniert wird. "Darauf war ich einfach nicht vorbereitet und ich habe auf der Bühne den Tod von Cliff sozusagen noch einmal erlebt."

Musik als Helfer

Wie Cliff, der Bilder malte, verarbeitet Uhl ihre Gefühle wohl auch in der Kunst. Sie singt gern und gut und hat eine CD mit Liedern gegen die Todesstrafe aufgenommen, die sie auch bei Konzerten präsentiert. Dass die Todesstrafe in der heutigen Zeit keinen Platz mehr haben sollte, davon ist sie überzeugt. Und auch davon, dass sie niemandem, nicht einmal den Angehörigen der Opfer, nützt. "Die Angehörigen der Opfer erhoffen sich durch die Hinrichtung, den inneren Frieden wiederzufinden", sagt Uhl. Aber das funktioniere nicht. "Selbst das Personal des Gefängnisses, in dem die Hinrichtung stattfindet, sagt den Angehörigen: ,Erhoffen Sie sich nicht zuviel davon.’ Es dauert Jahre, bis ein Verurteilter hingerichtet wird. Ich habe manchmal das Gefühl, dass die Angehörigen der Opfer ihr Trauma in dieser Zeit nicht aufarbeiten und verarbeiten. Sie warten auf den Tag der Hinrichtung und denken, an diesem Tag wird alles besser. Aber das ist eine Täuschung."

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Cliff Boggess wurde 1986 inhaftiert. Hätte er in Deutschland gelebt, wäre er für zwei Raubüberfälle und zwei brutale Morde vermutlich zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Seine schwierige familiäre Situation und seine spätere Reue hätten vielleicht für ihn gesprochen. Nach 20 Jahren hätte er vielleicht aus der Haft entlassen werden können, das wäre 2006 gewesen. "Cliff hat sich in den zwölf Jahren im Gefängnis stark verändert. Ich halte diese Veränderung für echt", sagt Uhl. Ein Journalist, der eine Dokumentation über Cliff Boggess gedreht hat, sieht das anders und nannte Boggess in seinem Film einen "Great Pretender"; jemanden, der seine Wandlung zu einem guten, gläubigen Menschen nur vorgetäuscht habe. "Wenn man einen Mörder wieder freilässt, bleibt ein Restrisiko", sagt Gabi Uhl. "Aber es gibt eben auch das Risiko, dass man einen Unschuldigen hinrichtet."

"Jesus Christus, Sohn des allmächtigen Gottes, habe Gnade mit einem Sünder wie mir. Vergib mir meine Sünden. Ich wünsche, mein Tod möge zur Bekehrung der Sünder im Todestrakt beitragen. Herr, Jesus Christus, in deine Hände befehle ich meinen Geist."-Clifford Boggess, 11. Juni 1998, letzte Worte.


Gabi Uhl betreibt eine eigene Internetseite, auf der sie Nachrichten zur Todesstrafe in Texas sammelt und über eigene Erfahrungen mit dem Thema schreibt: http://www.todesstrafe-texas.de

Eine interessante Dokumentation zum Thema Todesstrafe gibt es hier:

Video: ZDF-Dokumentation "Die Todesstrafe auf dem Prüfstand" (bis DSL 1000)

Video: ZDF-Dokumentation "Die Todesstrafe auf dem Prüfstand" (ab DSL 2000)

Henrik Schmitz ist Redakteur bei evangelisch.de und betreut die Ressorts Kultur und Medien.