Mehr als 12.000 Menschen sind auf brutale Weise in S 21 umgekommen. Auch in den anderen 195 Gefängnissen in ganz Kambodscha kamen zehntausende "Feinde der Revolution" - buddhistische Mönche, Lehrer, Ärzte, Intellektuelle, ‚Abweichler’ von der Parteidisziplin – grausam ums Leben. Insgesamt gut zwei Millionen Menschen verloren durch Mord, Folter, Zwangsarbeit und Verhungern während der knapp vierjährigen Herrschaft der Roten Khmer zwischen April 1975 und Januar 1979 ihr Leben. Das Land tut sich schwer mit der Bewältigung seiner Vergangenheit.
Eine der Lagerregeln: "Weinen verboten"
Chum Mey war Traktormechaniker in Phnom Penh,als Pol Pots Schergen ihn unter dem Vorwurf, er sei ein Spion des KGB, verhafteten. "Sie haben mich gefoltert. Mir wurden Fingernägel ausgerissen und ich wurde mit Elektroschocks gequält." Die Roten Khmer haben seine Frau und vier seiner Kinder umgebracht. "Das jüngste war zwei Monate alt." Wie pervers die Lagerregeln in S 21 waren, zeigt ein Schild in dem Gefängnis, das heute ein Völkermordmuseum ist. Eine Regel lautete: "Weinen verboten."
Nach Jahrzehnten des Verdrängens ist das Weinen um die Opfer jetzt erlaubt. Deshalb ist Chum Mey einer der Nebenkläger bei dem Tribunal, das 30 Jahre nach den Verbrechen der Roten Khmer die noch lebenden höchsten Führungskader des Regimes zur Verantwortung ziehen soll. Er wollte Duch ins Auge sehen, aus unmittelbarer Nähe erleben, wie der zum Christentum konvertierte Folterchef auf die Begegnung mit seinen Opfern reagiert, was er fühlt. Mehrfach bittet Duch während des Verfahrens die Opfer um Verzeihung. Aber auch das bringt Duch, von Beruf Mathematiklehrer, so kühl und distanziert vor, dass Chum Mey und die anderen Opfer ihm die Reue nicht abnehmen. Auch dass Duch jede individuelle Verantwortung mit einem "Ich bin’s nicht gewesen. Pol Pot war es" leugnet, empört Chum Mey, der Vorsitzender der neugegründeten "Vereinigung der Opfer der Roten Khmer" ist.
1.000 Menschen bei Duchs Stellungnahme dabei
Nebenkläger sind ein Novum in der Geschichte internationaler Tribunale zur Aufklärung von Kriegsverbrechen und Völkermord. "Bei keinem Tribunal waren das Volk und die Opfer so sichtbar und direkt beteiligt wie hier. Das wird Maßstäbe für zukünftige Tribunale setzen", sagt David Scheffer, der als Botschafter für Kriegsverbrechen der Regierung von US-Präsident Bill Clinton an den Verhandlungen zwischen westlichen Staaten, den Vereinten Nationen und der Regierung von Kambodscha maßgeblich am Zustandekommen des Tribunals beteiligt war. Herausgekommen ist ein von den Vereinten Nationen unterstütztes, von Geberländern wie Deutschland finanziertes, wegen seiner Zusammensetzung aus internationalen und kambodschanischen Juristen ‚Hybridgericht’ genanntes Tribunal, dessen Stellung präzise durch seinen sperrigen offiziellen Namen beschrieben ist: "Außerordentliche Kammer in den Gerichten Kambodschas" (ECCC).
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Das Interesse der Kambodschaner an dem Tribunal ist hoch. Alleine am Mittwoch dieser Woche zum Plädoyer der Staatsanwaltschaft und der Stellungnahme von Duch selbst waren gut 1.000 Menschen zu dem Gerichtsgebäude auf einem Militärgelände weit außerhalb Phnom Phens gekommen. Eine repräsentative Befragung hat ergeben, dass 85 Prozent der Befragten das ECCC unterstützen. Das ist ein Erfolg der Outreacharbeit des Gerichts und der kambodschanischer Menschenrechtsorganisationen und Anwaltsvereinigungen, die vom deutschen Zivilen Friedensdienst (ZFD) und dem Deutschen Entwicklungsdienst (DED) unterstützt werden.
Anwendung internationaler Rechtsstandards sorgt für Frust und Wut
Das große Interesse spiegelt die hohen Erwartungen an das Tribunal wieder. Recht und Gerechtigkeit soll es bringen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Der kurz nach dem Ende des Khmer-Rouge-Regimes geborene Ny Chandy, ein Anwalt der Nebenkläger, warnt vor Enttäuschungen. "Die Opfer und die Juristen haben unterschiedliche Auffassungen von Gerechtigkeit. Wir Juristen müssen uns an die Gesetze und die Regeln des Tribunals halten." Ein Quell der Enttäuschung vieler Opfer sei zudem die Beschränkung der Anklage nur auf die noch lebenden höchsten Führungskader der Roten Khmer“, sagt Ny Chandy vom "Cambodian Defenders Project" und fügt hinzu: "Eine größere Zahl von Anklagen würde dem Bedürfnis der Opfer und ihrer Angehöriger nach Gerechtigkeit mehr entsprechen."
Wie die Anwendung internationaler Rechtsstandards für Frust und Wut unter den Opfern sorgen können, denen rechtsstaatliche Verfahren, Vertretung durch Anwälte, die einfachsten Menschenrechte verweigert wurden, dafür ist das geforderte Strafmaß für Duch ein Beispiel. Eigentlich, so Staatsanwalt William Smith, sei lebenslänglich die einzig mögliche Strafe. Aber weil der Angeklagte "begrenzte Reue" gezeigt, durch seine Aussagen zum besseren Verständnis der inneren Gesetzmäßigkeit der Roten Khmer beigetragen habe und darüber hinaus seit seiner Verhaftung 1999 acht Jahre, davon fünf ohne Rechtsgrundlage, in einem kambodschanischen Militärgefängnis inhaftiert gewesen sei, seien 40 Jahre Haft angemessen.
Zerrissen zwischen Wunsch nach Gerechtigkeit und moralischer Genugtuung
Die Anwälte und ihre Nebenkläger fordern von dem Tribunal in seinen Urteilen auch eine kollektive Entschädigung für die Opfer festzusetzen. Aber ist noch reichlich unklar, wie eine solche "moralische Reparation" aussehen könnte. Von Pagoden zur Erinnerung an die Opfer ist die Rede, oder auch von der Einrichtung eines Dokumentationszentrums. Noch unklarer ist, woher die Mittel für diese Art von Wiedergutmachung kommen könnten und wer der Träger solcher Einrichtungen sein könnte.
Chum Mey ist zerrissen zwischen seinem Wunsch nach Gerechtigkeit in Form der härtesten Strafe für Duch einerseits und der moralischen Genugtuung andererseits, dass sein Peiniger überhaupt nach 30 Jahren vor Gericht steht. Er sagt: "Manchmal hasse ich ihn und möchte ihn schlagen. Aber wir Buddhisten sind friedfertig. Wenn uns ein tollwütiger Hund beisst, beißen wir nicht zurück." Das Urteil gegen Duch wird für März 2010 erwartet.
Michael Lenz arbeitet als freier Journalist in Südostasien.