Umgangsformen vom Mittelalter bis in die Gegenwart
Früher trank der Adel den Kaffee aus der Untertasse, Hofdamen pinkelten bei der Predigt schon mal in ein kostbares Porzellangefäß, um ja nichts von der Kanzelrede zu verpassen. Doch was im 18. Jahrhundert manierlich war, ist längst Geschichte. Die Vorstellungen von Anstand und Sitte haben sich über die Zeiten gewandelt wie die Mode. Das Bremer Focke-Museum zeigt ab Sonntag erstmals eine Kulturgeschichte der Manieren. Sie ist nur in der Hansestadt zu sehen und spürt bis zum 30. Mai 2010 den Umgangsformen vom Mittelalter bis in die Gegenwart nach.
26.11.2009
Von Dieter Sell

"Manieren. Geschichten von Anstand und Sitte aus sieben Jahrhunderten" lautet der Titel der Sonderausstellung in 13 Kapiteln. "Wir zeigen schlaglichtartig, wo unsere Manieren herkommen und wie sie sich entwickelt haben", erläutert Kuratorin Uta Bernsmeier. Zusammen mit ihrem Kollegen Urs Roeber hat sie dazu 200 Exponate von 40 Leihgebern zusammengetragen, darunter Gemälde, Porzellanfiguren und Silberschmiedearbeiten, Druckgrafiken und Fotografien. Der Besucher geht auf einem roten Teppich und sieht auch Alltagsobjekte, die Geschichten erzählen von Rücksichtnahme und Distanzverlust, Scham und deren lustvoller Überschreitung, Rüpelei und Feinsinn.

Manieren dienten dem Adel zur Abgrenzung von dem einfachen Volk

So wie den Hut, der bis heute als Zeichen der Höflichkeit gezogen werden sollte. Aber bitte nicht vom Kopf reißen, auch nicht nur angedeutet lupfen. Fingerspitzengefühl ist gefragt - wie überhaupt im Umgang mit Manieren. Geschichtlich geht das Hutziehen auf die Ritterzeit zurück. Bewaffnete des oberen Standes nahmen die Helme ab und zeigten dem Gegenüber den ungeschützten Kopf, um ihre friedlichen Absichten zu bekunden.

"Manieren waren für die da oben vor allem ein Mittel, um sich von denen da unten abzugrenzen", sagt die 54-jährige Kunsthistorikerin Bernsmeier. Ein Lackmustest für Anstand sind in ihren Augen bis heute Tischsitten, die etwa den richtigen Umgang mit Schneckenzangen und Hummergabeln regeln: "Je komplizierter die Gebrauchstechnik, desto erlesener ist der Kreis derer, der sie beherrscht."

Knigge: Manieren sind Pflichten an der Menschheit - und wieder modern

Auch erste Benimmbücher wie der Ratgeber für kindliche Sitten des Niederländers Erasmus von Rotterdam (1465/69-1536) gehören zu der Ausstellung, die von einem Katalog ergänzt wird. "Rücke nicht auf deinem Stuhl hin und her. Wer das tut, erweckt den Anschein, als ließe er seine Blähungen abgehen oder versuche es zumindest", mahnte er 1530. Allerdings riet der große Humanist auch zu Toleranz und warnte vor Überheblichkeit. "Der wichtigste Punkt der Höflichkeit ist der, dass du deinen Gefährten nicht weniger liebhast, weil er schlechtere Manieren hat. Es gibt nämlich Menschen, die die Ungeschliffenheit ihres Benehmens durch andere Gaben wettmachen."

Erst 250 Jahre später taucht dieser Appell zur Toleranz wieder auf, diesmal bei Benimm-Papst Adolph Freiherr Knigge (1752-1796). Er sieht Manieren als Pflichten, "die wir allen Menschen schuldig sind". Sie seien in erster Linie eine Sache der inneren Haltung, bekräftigt Ausstellungskuratorin Bernsmeier. Und die wird offenbar wieder modern. Tipps im Internet oder Etikette-Kurse an Tanz- und Volkshochschulen zeugen ebenso wie der Bestseller "Manieren" von Asfa-Wossen Asserate von einer Renaissance.

"Die Würde des Menschen ist unantastbar"

Asserate ist Schirmherr der Bremer Sonderausstellung. Benimm-Regeln, sagt der Großneffe des letzten äthiopischen Kaisers Haile Selassie, seien nur ein Teil der Manieren. "Wesentlich wichtiger ist die Herzensbildung." Das Ideal von Sitte und Anstand sieht Asserate in der Achtung der Menschenwürde, die auch das zentrale Thema der Ausstellung ist. "Jedem Menschen Respekt entgegenbringen, keinen anderen schlecht aussehen lassen, jeden so behandeln, dass er sich wohlfühlt, darauf kommt es an."

 

Buchhinweis: Urs Roeber, Uta Bernsmeier (Hg.): Manieren. Geschichten von Anstand und Sitte aus sieben Jahrhunderten", Edition Braus/Heidelberg 2009, 208 Seiten, 29,90 Euro (im Museum 28 Euro).

 

epd