Nur ein unscheinbarer, schmaler Gang führt von der Straße in den Hof. Da hindurch zieht sich der Besucherstrom. Im Inneren schlucken die hohen dunklen Backsteinhäuser das Licht der Nachmittagssonne. Sie sind seit Jahren unbewohnt, und überall haben Leerstand und Verwahrlosung tiefe Spuren hinterlassen. Zwischen den verlassen wirkenden Gemäuern und dem regen Kommen und Gehen der Besucher und Besetzer herrscht ein merkwürdiger Kontrast. Grüppchenweise stehen Leute zusammen, unterhalten sich, ein schick gekleidetes Paar schlendert zwischen den Häusern umher und verschwindet in einem der Ausstellungsräume im Erdgeschoss. Ein junger Mann mit Dreadlocks streicht gerade den Torbogen weiß. Um die vor kurzem noch vergessenen Gebäude herum scheint heute mehr los zu sein als im ganzen Rest der sonntags nahezu entvölkerten City. Und es kommen ganz verschiedene Leute.
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Noch vor etwa hundert Jahren waren große Teile der inneren Stadt von den über Jahrhunderte gewachsenen, dicht bebauten Fachwerkvierteln geprägt, die wegen ihrer typischen engen Gassen und Höfe Gängeviertel genannt wurden. Ebenso rasant wie sich Hamburg zur modernen Metropole entwickelte, wich das alte Stadtbild neuen Büro- und Geschäftshäusern. Geblieben sind von der alten Stadt nur noch wenige Überbleibsel wie die Krameramtswohnungen hinter der Michaeliskirche und die Kaufmannshäuser der Deichstraße die - aufwendig saniert - zu Touristenmagneten geworden sind. Der Häuserkomplex am Valentinskamp mit seinen zehn Gebäuden aus drei Jahrhunderten existierte im öffentlichen Bewusstsein bis vor drei Monaten praktisch gar nicht.
Polizei hält sich mit einer Räumgung zurück
Am 22. August ging’s los. Mit einem Hoffest als Auftakt seien sie und ihre Mitaktivisten in die Häuser gegangen, die bis dahin verrammelt gewesen seien, und stellten dort ihre Kunst aus. "Gleich am ersten Tag ist dann die Polizei hier aufgezogen", erinnert sich Ebeling. Da habe man schon gedacht, jetzt würde geräumt werden. Aber die Beamten hätten nur den Verkehr für einen Schützenumzug abgesperrt und seien dann mit den Schützen auch wieder abgezogen. Die erste Nervenprobe war überstanden, und die Polizei ist nie wieder aufgetaucht. Über eine Erklärung für dieses Zurückhaltung ist seither viel gerätselt worden. Schließlich gillt in der Hansestadt die klare Regelung, dass besetzte Häuser unverzüglich geräumt werden müssen: ein in Hamburg bisher beispielloser Vorgang.
Nach Ebelings Darstellung spielen dabei verschiedene Faktoren zusammen: Einer davon hängt mit "Creative-City-Hamburg" zusammen, einem Programm, das "kreative Köpfe" in die Stadt holen soll. Und plötzlich sind sie schon hier, mitten in der Innenstadt und gleich hundert von ihnen. Wenn man die hinzurechnet, die sich nur sporadisch beteiligen oder zu den Veranstaltungen kommen, sind es schon zweihundert Kreative. Die kann man dann schlecht räumen. "Man muss immer schneller sein als die Behörden", sagt Frau Ebeling lächelnd.
"Komm in die Gänge" präsentiert eigenes Nutzungskonzept
Hamburg hat den Gebäudekomplex schon vor Jahren an den niederländischen Investor Hanzevast verkauft. Vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen im Gängeviertel werde die Stadt die Häuser nunmehr für einen Preis von über zwei Millionen Euro zurückkaufen, berichtete das Hamburger Abendblatt, die große bürgerliche Tageszeitung in der Elbmetropole. Die Sanierungskosten würden mit zehn bis zwölf Millionen veranschlagt, meldete das Blatt weiter. Nach Frau Ebelings Worten hätten die Pläne von Hanzevast, wenn sie verwirklicht worden wären, das Viertel völlig umgekrempelt: Mehrgeschossige Tiefgaragen wären unter den Häusern entstanden, auf einigen Gebäuden hätte es Glasaufstockungen gegeben. Das Innenleben sollte komplett entkernt werden, um Platz zu schaffen für hochpreisige Wohnungen, Büros und Galerien. Von den Häusern, deren Fassaden alle unter Denkmalsschutz stehen, wären nur aufpolierte Hüllen übrig geblieben. Dieses Szenario scheint durch den städtischen Rückkauf vorerst abgewendet.
"Aber die Kuh ist noch lange nicht vom Eis", so die Pressesprecherin von "Komm in die Gänge". Die Stadt suche jetzt nach einem anderen Investor, und was dabei herauskomme, sei noch völlig offen. "Wir verzichten auf das nächste Investorenmodell", erklärt Frau Ebeling für die Künstlerinitiative. Die hat inzwischen schon ihr eigenes Nutzungskonzept entwickelt und das sieht vor, den gesamten Komplex in eine genossenschaftliche Selbstverwaltung zu überführen. Neben Wohn- und Arbeitsbereichen würden in den Erdgeschossen der Häuser jeweils Gemeinschaftsräume entstehen, die allen zugänglich gemacht werden sollen. In ihnen können Konzerte, Ausstellungen und Vorträge stattfinden. Solche Vorschläge dürften noch für Gesprächstoff mit der Stadt sorgen.
Das Gängeviertel vereint konträre Lebenswelten
"Die Idee war es, dass ein Stück Hamburg gerettet werden muss. Ich möchte schon, dass die Geschichte hier weiterhin ablesbar bleibt, so authentisch wie möglich", erklärt Frau Ebeling. Damit haben die Künstler auch bei weiten Teilen der Bevökerung einen Nerv getroffen, das ist zweifellos ihr stärkster Trumpf. Die Sympathien für das, was zur Zeit im Gängeviertel vorgeht, reichen weit über die linke Szene und Künstlerkreise hinaus bis in das konservative Hamburger Bürgertum hinein. Auch dort ist mittlerweile ein Bewußtsein für die Bedeutung des architektonischen Erbes der Hansestadt entstanden. Neben dem Gängeviertel rumort es derzeit auch an anderen Orten in der Stadt, wo Investoren Hand an historische Bausubstanz legen wollen.
"Es bewegt ja nicht nur uns, dass Hamburg sein Gesicht verliert" sagt Frau Ebeling und betont an anderer Stelle nicht ohne Stolz: "Wir haben gezeigt, dass man etwas erreichen kann.“ Oft genug fühle man sich wie eine Spielfigur, die auf einem großen Feld nur hin und her geschoben werde. Indessen schaut sich eine ältere Dame in dunkler Winterjacke und mit Goldrandbrille auf dem Innenhof um. "Ich glaube, ich war noch nie hier, vielleicht mal vor 20 Jahren. Aber dass das ein alternatives Projekt ist, finde ich sehr gut. Am liebsten würde ich mitmachen", sagt sie und wendet sich dann dem Eingang eines Ateliers zu.