Sonntag, der 1. Advent im Jahr 1839. In dem Dorf Horn vor den Toren Hamburg wird feierlich das erste Licht am weltweit ersten Adventskranz angezündet. Der ist aus Holz, noch ohne Tannengrün, so groß wie ein Wagenrad und mit vielen Kerzen bestückt: Vier weiße für die Sonntage und für jeden Werktag vor Weihnachten eine kleine rote. Jeden Tag wurde eine Kerze mehr angezündet, so dass am Heiligen Abend sämtliche Lichter brannten. Um ihn herum zur Andacht versammelt ist eine Schar von Jungen aller Altersstufen, einige junge Männer und der gerade 31-jährige Theologe Johann Hinrich Wichern, der Erfinder des Lichterrades.
Hamburg hatte seine Elendsviertel rund um den Großen Michel, und dort litten besonders die Kinder. Wichern, der nach dem Examen seiner pädagogischen Berufung gefolgt war, und andere Engagierte nahmen sich ihrer an. Erst durch Unterrichts- und Betreuungsstunden sowie Besuche bei den Familien, dann seit 1833 durch die Gründung eines Heims in einer Bauernkate mit dem Namen "Das Rauhe Haus". In Familiengruppen aufgeteilt, sollten sie eine neue Geborgenheit erleben, lernen und für die Zukunft gerüstet werden. Dazu gehörte der Rhythmus von Arbeit und Feier.
Werktagskerzen wurden später weggelassen
Wichern gestaltete die Feste in der wachsenden Hausgemeinschaft mit schöpferischen Ideen. Auch der Kerzenkranz zum Advent wurde weiter entwickelt: Seit 1860 schmückten ihn Tannengrün und weiße Bänder. Und da Wichern als Pionier Impulsgeber für die ganze Kirche zur Gründung der Diakonie im heutigen Sinne wurde, verbreitete sich gleichermaßen der Adventskranz weiter. Für den normalen Hausgebrauch ließ man allerdings die Werktagskerzen weg.
Was heute zu Hunderttausenden in Gärtnereien und Blumenläden verkauft wird, ist also nicht wie der Muttertag auf eine Idee von Blumenhändlern zurückzuführen, sondern auf einen Theologen. Was inspirierte ihn? Zum einen war ein hölzernes Rad mit Kerzen eine schlichte Lampenform. Zum anderen waren die Kerzen eine Art Kalender. Während die Vorfreude auf den Heiligen Abend wuchs, wurde das kindliche Zeitempfinden geschult. Vielleicht hatte Wichern auch den Brauch des Chanukkaleuchters vor Augen. Bei diesem jüdischen Fest im Dezember wird an jedem der acht Festtage ein Licht mehr angezündet. Kränze als Symbol des Sieges und der Ewigkeit sind fester Bestandteil unserer Kultur.
Farbe orientiert sich an der Liturgie
In welcher Farbe wird der Kranz geschmückt? Der Ur-Adventskranz ist rot und weiß. In evangelischen Kirchen in Deutschland hat er rote Schleifen und rote Kerzen. Eine weit verbreitete Tradition in katholischen Gegenden - aber auch in Norwegen und Schweden - ist es, die liturgische Farbe der Adventszeit, das Violett, als Schmuckfarbe einzusetzen. Wer es ganz genau nimmt, verwendet dann für den 3. Advent, welcher den lateinischen Namen "Gaudete" (Freut Euch) trägt und liturgisch in Rosa gehalten ist, eine rosa Kerze.
Auf den Floristikmessen werden jährlich wechselnde Moden vorgestellt. Dieses Jahr werben die Floristen unter anderem für die Variante "Mystic Christmas im Stil von Voodoo Floral". Da setzen Zierananas und Buddhanüsse "festliche Akzente". Bei den Farben "ganz aktuell sind alle Rottöne von Rubin, Karmin- und Altrot, gefolgt von Creme, Weiß und Silber, die gerne auch mit Violett, Lila, Pflaume oder Braun kombiniert werden." Trend sei in diesem Jahr der Kranz mit sechs Kerzen – so meldete zumindest der Verband der Kerzenhersteller. Da dürfte der Ur-Adventskranz aus dem Rauhen Haus, bei dem man 2009 vier weiße und 22 rote Kerzen braucht, doch noch besser ins Konzept passen ... Der darf dann allerdings nicht couchtischklein ausfallen, sondern sollte einen Durchmesser von mindestens 60 Zentimetern haben.
Verfremdung durch die Nazis
Der Adventskranz prägt die vorweihnachtliche Zeit – und er wurde geprägt. Die volkskundliche Weihnachtsforscherin Ingeborg Weber-Kellermann erinnert an die Nazi-Version der vier Adventskerzen. Nach einem Vorschlag der Partei sollte der älteste Junge die erste Kerze mit den Worten anzünden "Ich bringe Licht für alle Soldaten, die tapfer die Pflicht für Deutschland taten". Und das dritte Licht mit dem Vers "Mein Licht sei dem Führer geschenkt, der immer an uns und Deutschland denkt".
So krass verfremdet wurde der Kranz sicher selten. Aber sinnentleert ist er schon,wenn die Kerzen nicht mehr Symbol für Christus als Licht der Welt sind, sondern nur noch als Abzählhilfe bis zur Bescherung dienen. So wie der Reim sagt: "Advent, Advent, ein Lichtlein brennt. Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier, dann steht das Christkind vor der Tür." Mit der schnoddrig ergänzten Strophe: "Und wenn das fünfte Lichtlein brennt, dann hast du Weihnachten verpennt."
Schulkapelle wird jeden Tag heller
Im Rauhen Haus, in der dem ursprünglichen Vorbild nach einem Brand wieder aufgebauten Kate, hängt wie seit 170 Jahren ein Wichernscher Adventskranz. Wenn er das erste Mal angezündet wird, holen Kinder aus der Wichernschule das Licht in ihre Schulkapelle. Jeden Montagmorgen im Advent um zehn vor acht ist offenes Adventssingen. Und alle Stufen von der ersten bis zur sechsten Klasse feiern zusätzlich Adventsandachten im Rahmen des "schulischen Pflichtprogramms", wie Schulpastorin Katharina Gralla erklärt. "Wir erleben, wie es zunächst in der Kapelle fast dunkel ist und dann von Tag zu Tag und Woche zu Woche immer heller wird. Die Kinder kennen kaum das Dunkel, erst recht nicht bei der Weihnachtsbeleuchtung in der Innenstadt."
"Und plötzlich finden sie sich in den alten und neuen Liedern wieder", erzählt Gralla. "Wir sagen euch an den lieben Advent, sehet die erste Kerze brennt", "Mache dich auf und werde licht", "Gottes Wort ist wie Licht in der Nacht" und "Macht hoch die Tür" werden gesungen - und die Anregung dieser Feier wird mit nach Hause genommen. So ähnlich wird überall gefeiert, wo immer ein Adventskranz hängt. Nur eines haben die Kinder der Wichernschule allen anderen voraus, und darauf sind sie stolz, wenn sie es durch die Erzählung ihrer Schulpastorin erfahren haben: Der Adventskranz wurde bei ihnen im Rauhen Haus erfunden, keine hundert Meter von ihrer Schule entfernt.
Katharina Weyandt ist freie Autorin und schreibt regelmäßig für evangelisch.de.