Störungen im Betriebsablauf (Folge 8)
Unsere Kolumnistin Ursula Ott ist viel unterwegs. Meistens mit der Bahn. Und da meistens im ICE. Über das, was ihr dort passiert, was sie hört und sieht, schreibt sie. Und nein, es ist nicht immer die Bahn schuld.
20.11.2009
Von Ursula Ott

Meine Woche vom 16. bis 20. November

Montag

Guten Tag! Keine Antwort. Ist der Platz hier frei? Noch nicht mal ignorieren. Manche Menschen sind schon mit einem besonderen Stoffel-Gen ausgestattet. Und es sind leider öfter die Geschäftsreisenden als die Touristen in der Bahn. Gut, wer in den Urlaub fährt, hat auch bessere Laune und mehr Zeit als der Manager, der Montag morgens sichtlich unter Druck an seinem Laptop sitzt. Aber ein Minimum an Anstand wär schon ganz schön für die 70 Minuten, die man als Notgemeinschaft zusammen verbringen muss. Sonst geht es wie heute: Der Nadelstreifen neben mir sagt nichts, also setze ich mich auf den freien Platz neben ihn. Nach fünf Minuten kommt ein Passagier mit Last-minute-Reservierung – für den Platz vom Nadelstreifen. Der guckt mich sauer an, klar was er denkt: Er sitzt hier schon seit Düsseldorf, er hat quasi die älteren Rechte. Ich soll gefälligst aufstehen, ich hab ja noch nicht mal meinen Laptop aufgeklappt. Aber das sagt er nicht, weil er ja eh nix sagt. Also stelle ich mich blöd und bleibe sitzen, soll der Düsseldorfer doch im Stehen mit seinem Laptop reden. Nein, man wird kein netterer Mensch im überfüllten ICE.

Dienstag

Dienstags ist es normalerweise schön ruhig im ICE. Die Wochenpendler sind schon Montag gefahren, die Nervosität vom Wochenanfang hat sich gelegt. Normalerweise. Heute titeln die Zeitungen mit der größten Kreditkarten-Rückruf-Aktion aller Zeiten. Und wir rufen alle bei unseren Bank-Hotlines an. Meine Bank hat Gottseidank einen echten Menschen am Telefon sitzen. Es ist übrigens auch eine echte Sparkasse, die ihre Angestellten offenbar mit einem Crash-Kurs Psychologie gesegnet hat. Nicht so schlimm, kann nicht viel passieren, tröstet mich die Beraterin, aber wenn es mir besser damit geht, darf ich meine Visakarte einschicken. Die Kollegin hinter mir telefoniert ganz offensichtlich mit einem Computer. "Kundenberatung" schreit sie immer wieder ins Telefon, und "1" und "ja". Nichts ist peinlicher, als im Großraumwagen mit einem Computer zu sprechen. Kein Zweifel: Für die Banken wäre es effektiver, sie hätten heute morgen einen Bord-Seelsorger in den ICE geschickt, dann hätten sie uns alle auf einen Schlag verarzten können.

Mittwoch

Heute passiert der worst case eines Geschäftsreisenden: Einer kippt dem anderen Kaffee samt Kondensmilch über die Hose. Und es ist natürlich keine schwarze Hose, auf der sich das Malheur zumindest vier, fünf Stunden verbergen ließe, danach fängt Kondensmilch an zu stinken. Nein, es ist eine hellgraue Hose, und es sieht blöd aus. Ich würde sofort hysterisch werden, so wie Tanja, die neue Chefin in der Büro-Comedy "Stromberg": Da hat in der Folge von gestern abend der Tolpatsch Ernie der neuen Chefin Dickmilch an den Rock geschmiert. Und Tanja fing sofort an zu kreischen. Der "Stromberg"-Autor Husmann, der müsste mal ICE fahren. Dann würde er mit kriegen: Das Leben ist manchmal noch absurder als das Fernsehen. Das Kondensmilch-Opfer im real existierenden ICE sagt nämlich – nichts. Schweigt. Erst als der Tollpatsch am Frankfurter Flughafen aussteigt, sagt der mit der grauen Hose ganz laut. "Arschloch! Wenigstens entschuldigen hätte er sich können." Warum bloß hat er das nicht gleich gesagt? Männer sind komisch. Im Leben wie im TV.

Donnerstag

Am Bahnhof in Köln-Deutz blitzt es heute rosarot zwischen den grauen und blauen Anzügen hervor. Eine Mutter, aufgeregt, wartet mit zwei Töchtern, noch aufgeregter, auf den Zug nach München. Beide Mädchen haben rosarote Prinzessin-Lillifee-Koffer, und beide sitzen am Bahnsteig auf dem Boden und suchen in den geöffneten Koffern verzweifelt nach irgend etwas. Fahrkarte? Zahnspange? Kuscheltier? Die Geschäftsreisenden gucken irritiert, weil die Mädchen mittlerweile sehr nervös sind und ein Kleidungsstück nach dem andern auf das kalte Bahngleis legen. Das gefällt mir ganz gut am Zugfahren: Dass sich Menschen treffen, die sich sonst schön säuberlich aus dem Weg gehen. Wo gibt's das sonst noch? In der Kirche manchmal, wenn Kirche richtig gut ist.

Freitag

Heute fällt mir noch ein Ort ein, an dem man Leute trifft, die man sonst nicht trifft. Die Schule. Ich fahre heute gar nicht Zug, weil an den Schulen meiner Kinder Elternsprechtag ist. Und mir fällt wieder mal auf: Wer beobachten will, wie die Gesellschaft auseinander driftet, muss nur ein Schulkind über die Jahre beobachten. Klar, man kann schon seine kleinen Kinder in private Chinesischkurse und Early-Excellence-Kitas schicken. Aber wer im staatlichen System bleibt, merkt: Im Kindergarten sind noch alle zusammen, und man sitzt mit dem türkischen Kioskbesitzer und dem russischen Lackierer im verschmierten Blaumann beim Elternabend. Aber in der Grundschule fängt das Sortieren an. Wir haben heute Beratungsgespräch für die Viertklässler, das türkische Mädchen vor uns kommt mit den großen Brüdern. Die Eltern sprechen kein Deutsch. Empfehlung: Hauptschule oder Gesamtschule. Nachmittags sind wir am Gymnasium unseres älteren Kindes. Hier sind wir weitgehend unter uns, wir Deutschen, Journalisten, Musiker, Architekten. Ob wir die Eltern der kleinen Türken und Russen aus der Grundschule wohl mal wieder sehen? Vielleicht beim Zeitungkaufen morgens im Kiosk. Oder in der Bahn. Und eins ist sicher: Sie werden "Guten Tag" sagen.


Über die Autorin:

Ursula Ott, 45, ist stellvertretende Chefredakteurin von chrismon, Chefredakteurin von evangelisch.de, Mutter von zwei Kindern und pendelt täglich zwischen Köln und Frankfurt. www.ursulaott.de Welche Erlebnisse haben Sie mit der Bahn? Diskutieren Sie mit in unserer Community!