Mobbing: Ohne Hemmungen im virtuellen Raum
Die Erfahrung ist neu und alt zugleich. Lisas (Name geändert) Klassenkameraden machen sich im Internet über sie lustig. Auf der eigens eingerichteten "Lisahasser-Seite" tauschen sie gemeine Kommentare aus. Die Eltern schalten die Polizei ein, die Internetseite wird gelöscht, der Verantwortliche bestraft. Es ist nicht das erste Mal. Schon auf ihrer früheren Schule wurde Lisa gemobbt.
19.11.2009
Von Isabel Fannrich-Lautenschläger

"Cyberbullying" nennen Soziologen das gezielte und wiederholte Schädigen, das Einschüchtern und Schikanieren eines Menschen über die neuen interaktiven Medien. Die Opfer ziehen sich meist zurück, werden depressiv. In der virtuellen Welt mobben Kinder und Jugendliche anders als auf dem Schulhof: Hinter dem Rücken eines Mitschülers setzen sie per Handy ein Gerücht in die Welt. Jemand schickt anonym wieder und wieder dieselbe Mail: "Du bist fett". Bei einer Diskussion im Chatroom lassen alle ihren Klassenkameraden links liegen. Als besonders demütigend erleben es die Opfer, wenn ein obszön verändertes Foto oder ein Video im Internet kursiert, das sie betrunken oder beim Gang auf die Toilette zeigt.

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Das kann drastische Auswirkungen haben: In Großbritannien brachte sich schon im September eine 15-Jährige ums Leben, weil sie sich in Online-Netzwerken gemobbt fühlte. Die Eltern hatten damals beklagt, ihre Tochter sei nicht mit dem Druck und dem Mobbing auf Netzwerken und in Freundschafts-Gruppen im Internet wie Facebook und MySpace zurecht gekommen. Freunde erklärten, mehrere Mädchen hätten die 15-Jährige auf ihrer Facebook-Seite reihenweise beschimpft. Sie sei auch in der Schule gemobbt worden und habe kein Selbstvertrauen gehabt.

Jeder fünfte Jugendliche ist beteiligt

Viele Kids kennen das Phänomen. "Jeder fünfte Jugendliche ist beteiligt, entweder als Täter, als Opfer oder auch beides", hat Anja Schultze-Krumbholz festgestellt. Die Psychologin von der Freien Universität Berlin untersucht Cyberbullying von 12- bis 15-Jährigen an Berliner und Bremer Schulen. Die hohe Zahl der Beteiligten habe sie überrascht, sagt sie, sie decke sich aber mit den Ergebnissen anderer Studien.

Cyberbullying ist in Deutschland kaum erforscht. Noch scheint unklar, ob virtuelles Mobbing etwas Neues ist oder bloß eine ins Netz verlagerte Variante der altbekannten Ausgrenzungen auf dem Schulhof. Die Sozialpsychologin Catarina Katzer hat als erste Wissenschaftlerin in Deutschland rund 1.700 Schüler und Schülerinnen repräsentativ befragt. Sie betont den Unterschied: Das Mobbing in der Schule sei meistens ganz offensichtlich: "Wenn ich jemanden verprügle oder in der Klasse ausschließe, sieht das jeder."

Den Tätern im Cyberspace sei hingegen gar nicht bewusst, wie sich ihre Taten auswirkten, sagt Schultze-Krumbholz: "Ihnen fehlt dieses direkte Feedback. Sie sehen ihr Opfer nicht und können weder an Mimik und Gestik noch an Worten erkennen, dass es verletzt ist."

Opfer unterschätzen Öffentlichkeit des Internet

Dies verführe Jugendliche dazu, "über die eigenen Schamgrenzen hinweg zu gehen und Dinge zu äußern, die sie sich im realen Leben niemals erlauben würden", weiß auch Jürgen Wolf vom Evangelischen Beratungszentrum München.

Als besonders problematisch bewerten Experten, dass die Opfer die Gefahren im Netz unterschätzen und zu viel über sich preisgeben. "Die Kinder und Erwachsenen sind sich nicht darüber bewusst, dass das Internet öffentlich ist. Sie breiten oft ihre privaten Erlebnisse und Geheimnisse dort aus, führen eine Art Online-Tagebuch, durch das jeder an ihrem Leben teilhaben kann. Dadurch macht man sich angreifbar", sagt Schultze-Krumbholz.

Mobbing auf dem Schulhof und im Internet überlappen sich häufig. Catarina Katzer hat in ihrer Studie festgestellt, dass 80 Prozent der Jugendlichen, die in der Schule als "Bullies" auftreten, auch im Chatroom andere beleidigen und ausgrenzen. Umgekehrt erleben 63 Prozent der Opfer von Schulmobbing ähnliche Angriffe im Internet-Chat.

Die Motive der Täter sind vielschichtig. Manche schikanieren Jugendliche, die als Außenseiter gelten. Andere halten Konkurrenten klein oder wollen ihren Freunden imponieren. Ein Teil der Opfer dreht den Spieß um und wird aus Rache selbst zum Täter. "Es gibt aber auch Spaßhandlungen oder Dinge, die im Chatroom als normal gelten. Es gehört dazu, dass man sich im sozialen Netzwerk beschimpft. Man proletet ein bisschen herum", sagt Katzer.

Die Tränen sind so echt wie im realen Leben

Die Erwachsenen reagieren meist hilflos. Sie kennen sich mit der Medienwelt nicht aus, in der sich ihre Kinder zu Hause fühlen. "Viele wissen gar nicht, was ihr Kind am Computer oder auf dem Handy tut. Sie reagieren nur mit Hinweisen wie: 'Dann schalte doch das Handy ab, mach den Computer aus. Dann musst du es nicht mehr sehen'", hat Schultze-Krumbholtz beobachtet.

Deshalb ist Aufklärung nach Ansicht von Catarina Katzer besonders wichtig. Insbesondere an den Schulen und bei den Erwachsenen müsse das Bewusstsein geschärft werden, dass Cyberbullying ein Problem sei und den Opfern schade. "Denn vielfach argumentieren Eltern und Lehrer: 'Das ist alles nur virtuell, das spielt keine Rolle.' Doch die Tränen, die im Netz geweint werden, sind genauso echt wie die im realen Umfeld."


Weiterführende Informationen gibt es im Internet unter www.chatgewalt.de. Direkte Beratung, nicht nur per Chat, sondern auch per eMail und Telefon, gibt die Telefonseelsorge auf ihrer Internetseite.

epd/han