Am heutigen Dienstag sind Schüler und Studierende zu Tausenden auf die Straße gegangen, mobilisiert von Twitter und Facebook, organisiert über Handys und das Internet. 85.000 Demonstranten waren in 50 deutschen Städten unterwegs, um gegen die Verschlechterung der Studienbedingungen nach der Einführung des Bachelor- und Master-Systems zu protestieren. Teilweise protestierten Lehrerverbände gegen die Bildungspolitik der Länder mit. Auch in Italien waren Demonstrationen unterwegs. Die Bewegung verbreitet sich rasant, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa – ausgerechnet vom doch sonst eher beschaulichen Österreich aus, wo eine spontane Aktion große Wellen geschlagen hat.
"Wir dachten: Wir nutzen jetzt den Schwung aus und machen das auch an der Haupt-Uni", rekapituliert Marlene Illers den Tag vor fast vier Wochen. Sie gehört zu den Studierenden, die seit dem 22. Oktober das Auditorium Maximum (Audimax) der Universität Wien besetzt halten. Zwei Tage vorher war die Akademie der Künste ebenfalls von Studierenden aus Protest gegen die schlechten Studienbedingungen besetzt worden. Die Idee, das auch an der Universität Wien zu machen, war spontan, sagt Illers. Die 20-jährige Studentin war dabei, als die Wiener Studierendenschaft spontan eine Demonstration organisierte, "über Nacht".
Eine spontane Besetzung wird europaweit
Die Demo wurde von der Polizei aufgelöst, angemeldet war sie schließlich nicht, aber die paar Hundert Studierenden demonstrierten in der Uni weiter. Sie warfen einen Blick ins Audimax, sahen, dass es frei war, und entschieden in dem Moment: Das besetzen wir. "Ich habe mir schon gedacht: Wie lange bleiben wir denn jetzt hier?" berichtet Marlene Illers. Dass die Audimax-Besetzer aber inzwischen nicht nur eine Arbeitsgemeinschaft Presse haben, zu der Marlene gehört, sondern auch zehn weitere Arbeitsgruppen, die sich auch inhaltlich mit den Fragen des Protestes auseinandersetzen sollen, ist eher ein Zeichen dafür, dass die Besetzer noch eine Weile bleiben wollen.
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Das Wiener Vorbild unter dem Motto "Uni brennt!" hat nicht nur Wien mobilisiert. Auch in Deutschland () haben sich Studierende an vielen Hochschulen zu Aktionen aufgerufen gesehen und einzelne Räume oder Hörsäle besetzt. 2008 gab es hierzulande den "Schulstreik", aus dem dann das Projekt "Bildungsstreik 2009" hervorging. Die Initiative hatte für Herbst 2009 schon weitere Demonstrationen und Protestaktionen geplant, dann schwappte die Besetzungswelle aus Österreich über die Grenzen.
Jetzt, am Abend des 17. Novembers, sind nach Angaben des Projektes "Bildungsstreik 2009" schon 50 deutsche Universitäten in der einen oder anderen Form besetzt. Die Wiener Besetzer freuen sich über die Solidarität, die auch von vielen Lehrenden an den Universitäten kommt. Ein Streik im Sinne einer Blockade ist die Wiener Aktion allerdings nicht: "Es ist kein Bildungsstreik an der Uni", sagt die Wiener Protestlerin Marlene, die Besetzer versuchen nebenbei noch so viel zu studieren wie sie können. Die Dozenten zeigen Verständnis, es ist aber trotzdem anstrengend, gerade mit dem verschulten Bachelor-Studium, gegen das die Studenten protestieren.
Protest gegen hohe Studienbelastung
Der Protest der Studenten richtet sich vor allem gegen die Menge an Lernstoff und die hohe Arbeitsbelastung, die für schlechte Studienbedingungen in den neuen Bachelor-Studiengängen sorgen. Viele Hochschulen hätten es versäumt, die alten Studieninhalte den erheblich verkürzten Studienzeiten anzupassen, sagen die Protestierer. Die straffe Organisation des Studiums lasse darüber hinaus keinen Freiraum, um noch nebenher Geld für Studiengebühren zu verdienen. In Österreich, sagt Marlene Illers, gebe es "krasse Missstände", das System sei kaputt gespart worden. 34 Millionen Euro Notfallreserve hat jetzt der Wissenschaftsminister Johannes Hahn den chronisch unterfinanzierten Hochschulen laut tagesschau.de versprochen, Ende November soll es einen Bildungsgipfel geben.
Die Wiener Besetzer wollen Kontakt zu ihren Kollegen in Salzburg, Innsbruck und Graz aufnehmen und gemeinsam entscheiden, wie und wen sie dort hinschicken. Eines ist ihnen aber klar: Der dreistündige Gipfel "ist für uns nur ein Anfang", bekräftigt Marlene Illers. Auch die deutsche Politik hat auf den Druck der Studierenden schon reagiert. Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) kündigte überraschend entgegen ihrer bisherigen Planung eine BAföG-Erhöhung an. Union und FDP hatten sich bei ihren Koalitionsverhandlungen bisher nur auf die Anhebung der BAföG-Altersgrenze auf über 30 Jahre verständigt, um auch ältere Studierende nach einer Berufsausbildung zu fördern. Die Vorsitzende des Bildungsausschusses des Bundestags, Ulla Burchardt (SPD), will an diesem Mittwoch mit einer Abordnung der Demonstranten im Parlament reden.
Bologna-Prozess nicht verteufeln
Im Zentrum der Forderungen der Studierenden stehen vor allem die schlechten Studienbedingungen: Zu große Vorlesungen und Seminare, zu wenig Räume an den Unis. Die Präsidentin der Hochschulrektorenkonferenz Margret Wintermantel warnte aber bereits davor, den Bologna-Prozess prinzipiell zu verteufeln, der 1999 begonnen wurde und mit dem der Bachelor und Master die alten Magister- und Diplom-Abschlüsse ersetzen. Sie warf der Politik Versäumnisse vor: "Die Protestaktionen sind ein deutlicher Indikator dafür, dass politisches Handeln gefordert ist. Wir brauchen mehr Personal in der Lehre, um die Qualität des Studiums zu halten und zu verbessern." Die Studienreform hin zu der "studierendenzentrierten Lehre", die der Bologna-Prozess vorsehe, brauche Geld: "Seit langem wissen wir aus Berechnungen des Wissenschaftsrats, dass die Studienreform 15 Prozent mehr finanzielle Mittel für die Lehre erfordert."
Zudem sei bereits nach dem Bildungsstreik vom Sommer einiges in Bewegung geraten, sagt Thomas Richter, Pressesprecher der Humbodt-Universität Berlin, die ebenfalls besetzt ist. "Der Prozess ist lang", da wundere es nicht, wenn die Fortschritte nicht direkt zu den Studierenden durchsickerten. Von Seiten des Universitäts-Präsidenten Christoph Markschies gebe es "ein klares Bekenntnis zu Bologna", aber auch dazu, die Hausaufgaben vor Ort zu erledigen - und das hieße vor allem, die neuen Studiengänge "studierbar zu machen". Damit kommt die Humboldt-Uni den Forderungen der Studenten entgegen.
Aber neben besseren Studienbedingungen fordern die Studierenden von Wien bis Berlin auch "Bildung für alle" und gerade in Österreich eine viel stärkere Demokratisierung der Uni-Verwaltung. Das greift nicht immer. "Die Presse" aus Wien berichtet auf ihrer Internetseite über eine Studie des österreichischen Instituts für Jugendkulturforschung, nach der 70 Prozent der Studierenden zwar die Proteste unterstützen, aber nur die Unzufriedenheit mit den individuellen Studienbedingungen eine die Studenten, sagt die Studie. Die allgemeinen politischen Forderungen seien den meisten egal.
"Haben alle zu nichts geführt"
In Wien sieht Marlene Illers ein ähnliches Problem. Auch wenn Tausende mit demonstrieren und sympathisieren: "Ich glaube, dass es uns nicht gelungen ist, die große Mehrheit in die aktive Protestbewegung einzubinden." Damit stehen die Wiener Besetzer vor einem Problem, denn irgendwann werden sie das Audimax verlassen müssen. "Dann wird es schwierig, weiter irgendwas zu organisieren, wenn wir nicht mehr hier sind", orakelt Marlene. Die Dialogbereitschaft der Hochschulleitung sei nicht sehr hoch, der Rektor "akzeptiert die basisdemokratische Struktur, die wir hier geschaffen haben, nicht."
Marlene und ihre österreichischen, deutschen, italienischen und französischen Mitstreiter hoffen, dass die Proteste weitergehen und sie selbst an ihrer Lage etwas ändern können, zumindest was die konkreten Probleme an den Unis angeht. Aber so richtig hoffnungsvoll klingt es nicht, wenn Marlene aus Wien vierzig Jahre nach 1968 durchgibt: "Es gab viele Studentenproteste in der Vergangenheit, aber die haben alle zu nichts geführt."
Hanno Terbuyken ist Redakteur bei evangelisch.de, zuständig für die Ressorts Gesellschaft und Wissen.
Zur Bildungsproblematik hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ein Votum des Hochschulbeirats herausgegeben.