Dicht an dicht stehen sie auf dem kleinen Traueraltar, wie übergroße Konservendosen im Supermarktregal. Zwanzig Urnen. Durch den Feierraum Nord des Öjendorfer Friedhofs, draußen im Hamburger Osten, wabert eine Instrumentalversion von "Amazing Grace" aus den Boxen eines tragbaren CD-Spielers. Die Stuhlreihen im Feierraum sind leer. Pastor Probst ist in ein kurzes Gebet versunken, als die CD anfängt zu springen. Er fährt die Lautstärke herunter. Es ist kurz nach neun Uhr an diesem Montagmorgen, und nach nicht einmal einer Viertelstunde endet die Trauerfeier, zwei Minuten zu früh,weil die CD ein paar Mal zu oft gespielt worden ist. Sie hat sich abgenutzt.
"Ich hatte ganz vergessen, dass das Lied einen Sprung hat", sagt der Pastor eine halbe Stunde später, "aber irgendwie hat es ja zur Situation gepasst." Probst, Jahrgang 1949, dunkle Haare, angegrauter Kinnbart, stellt den CD-Spieler wieder zurück ins Regal in seinem Büro im Pflegezentrum Holstenhof, nur wenige Kilometer vom Öjendorfer Friedhof entfernt. Den Talar hatte er schon im Feierraum wieder ausgezogen. Seinen Arbeitstag als Heimseelsorger beginnt er in Jeans, weißem Hemd und Lederweste. Die zwanzig Toten hat der Theologe vor Dienstbeginn ausgesegnet, ehrenamtlich. Hätte Probst es nicht getan,wäre die Asche dieser Menschen demnächst einfach begraben worden.
Seit sechs Jahren ist Jürgen Probst Seelsorger in zwei Hamburger Pflegeheimen. Es dauerte nur ein paar Monate, bis er begriff, dass es Menschen gibt, die ohne jede Trauerfeier von Erden gehen. So wie die Frau, die jede Woche zu Probsts Hausgottesdienst gekommen war. Irgendwann fehlte sie. Der Pastor fragte nach. Gestorben, hieß es. "Aber keiner konnte mir sagen, wohin sie gekommen war." Probst lernte, dass Politiker und Beamte in Großstädten ein Verfahren geschaffen haben für Menschen, die niemanden mehr haben, wenn sie am Ende ihres Lebens angekommen sind. Ordnungsbehördliche Bestattung heißt dieses Prozedere in Berlin, Bestattung als Ersatzvornahme in Frankfurt am Main, Bestattung von Amts wegen in München.
"Bitte, Herr, lass uns nicht abstumpfen"
In Hamburg sind es die Bestattungen nach Paragraf 10 des Gesetzes über das Leichen-, Bestattungs- und Friedhofwesen, kurz: Zwangsbestattungen. Bestattungsrecht ist Ländersache, deshalb stehen unterschiedliche Begriffe für den annähernd gleichen Vorgang. Wenn ein Mensch stirbt und die Behörden keine "bestattungspflichtigen Angehörigen" finden, die ein Begräbnis organisieren und bezahlen, kommt die Leiche von Amts wegen unter die Erde. Oft bekommen nur Behördenvertreter, Bestatter und einzelne Pfarrer etwas davon mit. In Berlin ereilt dieses Schicksal pro Jahr mehr als 2.000 Menschen, in Frankfurt 100, in München fast 500, in Hamburg 800. Aufs ganze Land hochgerechnet, verschwindet jedes Jahr eine Kleinstadt.
Etwa alle zwei Wochen packt Pastor Probst seinen CD-Spieler ein und fährt zum Öjendorfer Friedhof, um die Toten auszusegnen, "je nach Anfall". Dann spricht er ein paar Bibelverse, fixiert die Urnen und wird wütend. "Ich frage mich immer wieder, warum sich niemand darum kümmert, wie diese Menschen unter die Erde kommen. Und sie selbst haben sich auch nicht darum gekümmert. Bitte, Herr, lass uns nicht abstumpfen." Ein Friedhofsbediensteter im dunklen Anzug liest die Namen der Toten vor. Herbert,Wilhelm, Margarete, ganz normale Namen. Über ihr Leben weiß Probst nicht mehr als das, was die Etiketten auf den Urnenverschlüsen über sie vermerken: Name, Registriernummer, Geburtstag, Todestag.
"Es ist schlimm, immer wieder mitzuerleben, dass manche Menschen niemanden mehr haben", sagt Siegfried Carstens. Der Leiter des Öjendorfer Friedhofs ist diesmal zur Trauerfeier gekommen, ausnahmsweise, wahrscheinlich weil Besuch da ist. Bei seinem kurzen Auftritt gibt er ein Paradebeispiel der hanseatischen Kunst ab, zurückhaltend, aber trotzdem bestimmt aufzutreten. Die Anlage in Öjendorf gehört zu den Hamburger Friedhöfen, die Stadt ist Hauptgesellschafter. Und niemand, das hört man aus den höflich und ruhig vorgetragenen Worten des Friedhofsleiters heraus, soll den Eindruck gewinnen, dass Hamburg seine vergessenen Toten einfach so verschwinden lässt.
Familienfahnder haben nur selten Erfolg
In Hamburg suchen Mitarbeiter der Sozialämter und der Städtischen Friedhöfe nach Angehörigen,wenn sich zwei Wochen nach einem Todesfall noch kein Verwandter gemeldet hat. Für eine Suche bleibt ein guter Monat Zeit. Bis zu sechs Wochen darf eine Leiche in der Öjendorfer Verstorbenenannahme bleiben. Nach der Einäscherung kann der Friedhof die Urne noch einmal zehn bis zwölf Tage verwahren, dann muss bestattet werden. In dieser Zeit erkundigen sich die Familienfahnder in Heimen nach Angehörigen. Sie recherchieren in Melderegistern, bitten Standesbeamte um Hilfe, aber bis die antworten, sind die Toten meist schon unter der Erde. Erfolg haben die Fahnder selten. Nur in 15 Prozent der Fälle finden sie Angehörige.
Sie tun das nicht für die Toten, sondern für die Staatskasse. Denn die Familie ist verpflichtet, sich um die Bestattung von Verwandten zu kümmern. Die einzelnen Bundesländer bestimmen, wer dazuzählt. Hamburg zum Beispiel nimmt Ehepartner, Kinder, Schwiegerkinder, Enkel, Eltern, Geschwister, Großeltern,Tanten,Onkel, Nichten oder Neffen eines Toten in die Pflicht, sehr viele Menschen also. Wenn man sich die Hamburger Gesetze ins Leben übersetzt, verrät das viel über den Zustand von Großstadtfamilien: Sorgen die Steuerzahler für die letzte Ruhe eines Toten, muss er zu Lebzeiten von ziemlich vielen Mitmenschen vergessen worden sein.
Herbert, Wilhelm, Margarete. Wie kommt es, dass Menschen einfach so verschwinden können? Die Sozialämter der Hansestadt übermitteln nur die Namen und den letzten Wohnsitz der Verstorbenen – der Datenschutz hört mit dem Tod nicht auf. Aber immerhin, so entnimmt man daraus, gab es oft einen festen Wohnsitz. Zwangsbestattungen sind nicht nur ein Obdachlosen- oder Armutsphänomen. Die Toten stammen nicht aus einem bestimmten Milieu, teilt das Berliner Gesundheitsamt mit. Der einsame Tod geht quer durch alle Bevölkerungsschichten, informiert das Frankfurter Ordnungsamt. Alle Schichten sind betroffen, berichtet auch die Stadt München.
Viele überleben alle Angehörigen
Wenn nicht Armut, was denn dann? Jürgen Probst, der Pastor und Heimseelsorger, hat viel darüber nachgedacht. Die Menschen werden immer älter, sagt er, viele überleben alle Angehörigen. Die Arbeit zwinge oft zum Umzug, Kontakte gingen verloren, irgendwann sei dann keiner mehr da. Und einige Menschen seien Einzelgänger, einfach nur schwierig und deshalb einsam bis in den Tod. "Sie kennen sicher auch Menschen, mit denen Sie nichts zu tun haben wollen. Man darf nicht alles den Lebenden anlasten." Aber manches doch, und darüber kann der Pastor richtig wütend werden, weil die Geschichten von Menschen wie Herbert,Wilhelm und Margarete immer häufiger in seiner Zeit gespielt haben. Nur wenige Urnen, die der Pastor vorhin ausgesegnet hat, vermerken Geburtsjahrgänge aus den zwanziger Jahren. Die Dreißiger-, Vierziger-, Fünfziger-Jahrgänge sind oft schon in der Mehrzahl. "Denken Sie mal dran,was in der Gesellschaft los ist!", sagt Probst und zählt auf: Die Menschen benutzten sich nur noch. Es gelinge ihnen nicht mehr, ihre Konflikte zu lösen. Die vielen Ehescheidungen hinterließen Wunden bei Kindern.
Aber wäre es dann nicht sinnvoller, den Menschen zu helfen, die heute noch leben, statt sich alle zwei Wochen mit einem Friedhofsbediensteten in einen Trauerraum zu stellen? "Ich kann die Gesellschaft nicht heilen. Ich kann den Menschen nur raten, auf ihre Beziehungen zu achten." Am Ende des Tages mit Pastor Probst geht man anders durch die große Stadt. Und in der U-Bahn fragt man sich plötzlich,wer wohl die Frau auf dem Platz gegenüber zu Hause erwartet.
Am nächsten Morgen um kurz nach sieben greift die Öjendorfer Arbeitsteilung zwischen Pastor Probst und Frater Rafael. Der Friedhof hat die Grablegung der 20 Urnen angesetzt, die Probst am Tag zuvor ausgesegnet hat. Wie immer frühmorgens, bevor der Friedhof offiziell öffnet. Später am Tag werden die Angestellten für reguläre Begräbnisse gebraucht. Sie dann für die Zwangsbestattungen abzuziehen, wäre zu teuer, argumentiert die Verwaltung. Es regnet so stark, dass sich Frater Rafael eine Outdoorjacke über den Talar ziehen muss. Sein schmales Gesicht mit dem Dreitagebart verschwindet fast unter der Kapuze.
Freischaffender Seelsorger hilft mit
Frater Rafael, ein orthodoxer Christ, stellt sich als freischaffender Seelsorger mit Schwerpunkt Trauerarbeit für Menschen ohne Kirchenbindung vor. Pastor Probst hat er vor vier Jahren kennengelernt, bei der Enthüllung der Skulptur "Die Beweinung", die auf dem Friedhof an die vergessenen Toten erinnert. Seitdem teilen sie sich ihre selbst geschaffene, unbezahlte informiert das Frankfurter Ordnungsamt. Alle Schichten sind betroffen, berichtet auch die Stadt München. Alltagsökumene. Probst gestaltet die Aussegnungsfeier, Frater Rafael die Grablegung, "aus tiefer Menschenliebe", wie er erzählt. Wer Frater Rafael so reden hört, hat zunächst Angst, seine Stimme könnte vor lauter Sanftmut verstummen. Aber plötzlich klingt sie kämpferisch, als die Rede auf die 20 Urnen kommt, die er nun bestatten will. Der Kampf geht auch um Begrifflichkeiten. "Wir wollen, dass die Toten nicht mehr als herrenlose Leichen bezeichnet werden." Viele Behörden machten das noch so, aber das klinge wie herrenloses Gepäck, das den Menschen auf Bahnhöfen und in den Zügen Angst mache. "Vergessene Tote", das sei der richtige Begriff, erklärt er auf dem Weg von seinem Wagen zum Grabfeld. Das Auto hat er gemietet. So frühmorgens ist es schwer, mit Bussen zum Friedhof zu kommen, der mit seinen großen, von Efeu überwachsenen Bäumen und den weiten Rasenflächen wie ein Park wirkt.
Am Rande von Grabfeld 319-12.01 steht ein kleiner grüner Traktor mit Anhänger. Das ist der Bohrer. Auf dem Gehweg parkt ein Fahrrad, ein Spaten lehnt daran. Damit haben zwei Friedhofsangestellte 20 Löcher auf dem Rasen angedeutet. Die Urnen stehen schon in fünf grünen Holzkästen auf dem Rasen. Frater Rafael zündet ein rotes Grablicht an und stellt es vor die Kästen. Er bekreuzigt jede Urne und verneigt sich. Dann bittet er um Vergebung für die Toten und singt das Vaterunser. Er bekreuzigt sich, tritt ein paar Schritte zurück, verneigt sich noch dreimal und ruft: "Ewiges Gedenken." Als er zur Seite tritt, putzt er sich die Nase. Es ist kühl, und Frater Rafael sagt: "Wäre ich jetzt nicht hier gewesen, die wären sang- und klanglos verschwunden."
Weit und breit nur Erde und Rasen
Der Lärm des Traktormotors zerreißt die Stille. Das Gefährt stoppt so, dass der spitze Bohrer genau über dem ersten angedeuteten Loch hängt. Einer der Arbeiter stellt sich hinten auf den Bohrer und dreht an einer großen Kurbel, der andere sitzt im Fahrerhäuschen und gibt Gas. Ein paar Sekunden nur bohrt sich das Gerät durch die Kraft der Krubelwelle in die Erde, etwa einen halben Meter tief. Beim Herausziehen gibt der Fahrer Vollgas. Ein weiterer Mann mit dunkler Anzughose, Lederschuhen und Regenjacke eilt herbei, holt die erste Urne und legt sie ins frisch gebohrte Loch. Und dann wieder: anfahren, bohren, Vollgas, hochziehen, anfahren.
Nach einer halben Stunde bleiben 20 Hügelchen, wie von einem Maulwurf aufgeworfen. Ihre Reihenfolge ist festgelegt. Am Rand der grauen Gehwegplatten, die aufs Grabfeld führen, sind Pflastersteine eingelassen. Mit ihrer Hilfe weiß die Friedhofsverwaltung genau,wo Herbert,Wilhelm, Margarete liegen, falls sich doch noch ein Angehöriger oder Freund findet, der einen Stein aufstellen will. Das passiert selten. Fünf Reihen weiter oben liegen ein Gesteck und eine welke Rose, sonst sind weit und breit nur Erde und Rasen zu sehen. Und das Grablicht, das Frater Rafael aufgestellt hat. Es wird nicht sehr lange leuchten. Nach einer Stunde ist der erste Zentimeter Wachs schon flüssig. Die kleinen Hügel, unter denen die Urnen liegen, sinken unter den Regentropfen langsam in sich zusammen. Bald werden die neuen Grabreihen so aussehen wie die aus den vergangenen Wochen, schmierig, braun und aufgewühlt. Es wird bis zum Frühling dauern, bis Gras über sie wächst. Dann wird Grabfeld 319- 12.01 voll sein. Es sind nur noch neun Reihen frei.
Der Artikel ist bereits im Februar 2007 in chrismon plus erschienen.