Parteitag rechnet mit SPD-Führung ab
Tag der Abrechnung bei den Sozialdemokraten: Zum Auftakt des Bundesparteitages in Dresden musste die SPD-Führung zum Teil heftige Vorwürfe einstecken.

Der bisherige Vorsitzende Franz Müntefering räumte eine Mitschuld der Parteispitze an der verheerenden Wahlniederlage am 27. September ein. In seiner einstündigen Abschiedsrede rief der 69-Jährige seine Partei zur Kampfbereitschaft auf: "Wir kommen wieder." Müntefering vermied es jedoch, sich klar von den umstrittenen Sozialreformen wie der Rente mit 67 zu distanzieren.

In der Aussprache mit mehr als 50 Wortmeldungen gab es kaum persönliche Vorhaltungen an Müntefering. Allerdings hätte man sich von ihm mehr Selbstkritik erwartet, wurde in der Debatte betont. Zahlreiche Delegierte vor allem vom linken Flügel kritisierten den sozialpolitischen Kurs der Partei in der elfjährigen SPD-Regierungszeit. "Wir haben alles mitgemacht", empörte sich der ehemalige Bundestagsabgeordnete Eckart Kuhlwein. "Es gab niemals eine Mehrheit für Hartz IV, für die Rente mit 67 und eine Bahnprivatisierung", sagte der bayerische Delegierte Harald Unfried. Wenn die SPD "diese Realität" nicht akzeptiere, werde sie "nie aus dem Tal der Tränen herauskommen". Auch die frühere DGB-Vize Ursula Engelen-Kefer verlangte eine Umkehr bei der Rente mit 67, bei Hartz IV und bei Mindestlöhnen und Leiharbeit. "Die Rente mit 67 steht synonym für Armut im Alter", sagte sie.

Kritik weniger heftig als befürchtet

Nach Ansicht des frühere Bundestagsabgeordneten Peter Conradi ließen sich die Mitglieder in den vergangenen Jahren von der Spitze zu viel gefallen. Von den Gremien sei einfach nur abgenickt worden, was die Oberen beschlossen hätten. Damit müsse endgültig Schluss sein. Auf Unverständnis stieß auch, wie die neue Parteispitze "in kleinen Kungelrunden" unmittelbar nach der Wahlniederlage entstanden sei. Zahlreiche Redner setzten sich für ein schärferes linkes Profil ein. Der Parteilinke Ottmar Schreiner und die Juso-Vorsitzende Franziska Drohsel verlangten die Wiedereinführung der Vermögensteuer. Auch während der SPD-Regierungszeit seien die Reichen reicher und die Armen ärmer geworden, sagte Vorstandsmitglied Niels Annen.

Der neue SPD-Bundestags-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier meinte im TV-Sender Phoenix, die Kritik sei nicht so heftig ausgefallen wie vor dem Parteitag befürchtet. Der zum linken Parteiflügel gehörende Delegierte Gernot Grumbach sagte, die Partei solle aufhören, "nach Schuldigen zu suchen", sondern ihre derzeitigen Probleme beschreiben.

Müntefering: "Sozialdemokratische Idee nicht am Ende"

Müntefering hatte seine Partei zuvor zu einem Neuanfang mit Selbstbewusstsein aufgerufen. Die politische Konkurrenz solle wissen, die SPD "zieht sich nicht als Selbsthilfegruppe ins Jammertal zurück", sagte Müntefering in seinem Rechenschaftsbericht. Die Partei sei da. "Die SPD ist kleiner geworden, aber die sozialdemokratische Idee nicht. Schon gar nicht ist sie am Ende." Auch an die Adresse der politischen Gegner sagte er: "Wir sind kampffähig. Wir sind kampfbereit. Wir kommen wieder."

Müntefering betonte, das Ergebnis von 23 Prozent am 27. September sei nicht mit dem normalen Auf und Ab in der Demokratie erklärbar. "Die Dimension der Niederlage ist das Erschreckende." Im Wahlkampf habe die SPD zu undeutlich gelassen, "mit wem wir was wie durchsetzen wollen", sagte Müntefering selbstkritisch.  "Die Niederlage war selbst verschuldet."

Müntefering weiter: "Das muss uns erschüttern: Unser Vertrauensverlust bei so vielen Menschen. Unsere Unzulänglichkeit, das Richtige, was wir wollen, in konkrete Politik zu fassen. Unsere unzureichende Fähigkeit, unsere Politik verständlich und mehrheitsfähig zu machen." Alle dies sei wahr. Trotzdem müsse die SPD nun auch manchen Versuchungen widerstehen: "der oberflächlichen Antwort, dem billigen Zorn, der Nostalgie, der Mutlosigkeit, der Missgunst untereinander und dem Klein-Karo."

"Niedriglöhne führen in die Altersarmut"

Mit Blick auf die Kritik an der in seiner Amtszeit als Bundesarbeitsminister eingeführten Rente mit 67 sagte Müntefering, der mit der Union ausgehandelte Koalitionsvertrag sei 2005 von einem SPD-Parteitag fast einstimmig beschlossen worden. Es sei dann nur konsequent, wenn sich die politischen Akteure an die Umsetzung dieser Beschlüsse gemacht haben. Indirekt rechtfertigte Müntefering auch die Arbeitsmarktreformen in der Regierungszeit von Ex-Kanzler Gerhard Schröder. "Die Bekämpfung von Kinderarmut setzt voraus, dass die Menschen Arbeit haben." Wer Altersarmut verhindern wolle, müsse auch dafür sorgen, dass Deutschland ein Hochlohnland bleibe. "Niedriglöhne führen in die Altersarmut hinein."

Müntefering warnte Schwarz-Gelb vor Einschnitten bei Kündigungsschutz, Mitbestimmung und Tarifautonomie. Schon bei der Gründung der großen Koalition 2005 habe die CDU/CSU hier etwas ganz anderes durchsetzen wollen, was die SPD verhindert habe. "Wir bleiben auch jetzt hellwach und kampfbereit." Ob er an der Rente mit 67 festhalten will, ließ Müntefering offen. Er plädierte lediglich für mehr "Individualisierung des Übergangs ins Rentenalter" statt pauschaler Frühverrentung.

Am Ende verabschiedete sich Müntefering ohne sichtbare Rührung: "Wie es auch weitergeht im Auf und Ab und Ab und Auf der politischen Zeiten - ich bin dabei. Ich bin Sozialdemokrat, immer. Glückauf, liebe Genossinnen und Genossen." Der Parteitag antwortete auf Münteferings einstündige Rede mit dreiminütigem freundlichem Applaus.

Heil: SPD hat Anschluss verloren

Die SPD will bei dem dreitägigen Parteitag den früheren Bundesumweltminister Sigmar Gabriel zum neuen Parteivorsitzenden wählen. Seine Generalsekretärin soll Andrea Nahles werden. Zudem wollen die 525 Delegierten bis zum Sonntag über die Gründe für das schlechteste Ergebnis bei einer Bundestagswahl und über den künftigen Kurs in der Opposition beraten. In ihrem Leitantrag listet die Parteispitze eine Fülle von Ursachen für das Wahldebakel auf. Am Samstag wollen die Delegierten auch über den künftigen Kurs der Partei in der Opposition entscheiden. In zahlreichen Anträgen wird die Rücknahme der Rente mit 67 und der Hartz-Gesetzgebung gefordert. Eine scharfe Kontroverse wird auch über den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr erwartet. Am Sonntag geht der Parteitag mit einer Debatte über das Godesberger Programm der Partei, das genau vor 50 Jahren verabschiedet wurde, zu Ende.

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Zur Eröffnung des Parteitags rief der ebenfalls scheidende SPD-Generalsekretär Hubertus Heil seine Partei dazu auf, auch in der Opposition Verantwortung für den ganzen Staat zu tragen. Der Weg aus der Krise werde nicht einfach, sagte Heil. Die SPD habe in den vergangenen Jahren offensichtlich den "Anschluss" daran verloren, wie die Menschen im Land denken und fühlen. Zugleich müsse die SPD auch in der Opposition Widerstand organisieren, etwa gegen die Zerschlagung des Gesundheitssystems durch FDP-Gesundheitsminister Philipp Rösler. "Wir sind Volkspartei und wir werden nicht Klientelpartei wie die FDP" und andere, sagte Heil.

dpa