An jedem Morgen greift sie zuerst zu ihrem Laptop. Noch vor dem Aufstehen, vor dem Zähneputzen, vor dem ersten Tee schaltet sie ihn an. Nebenbei – auf dem Weg ins Bad und in die Küche – folgt der erste Check der persönlichen Favoriten im Internet: Nachrichten, Community-Seiten, Blogs und natürlich ihre Mails – alles Routine. Johanna ist 23 und studiert Jura in Bonn. Sie gehört zu der Generation, die mit dem Internet aufgewachsen ist. Ein Leben ohne das Medium kann sie sich nicht vorstellen, weder privat noch beruflich. Wenn sie gefragt wird, wie viel Zeit sie täglich im Netz verbringt, zuckt sie mit den Achseln. "Aktiv bin ich bestimmt mehrere Stunden im Internet. Aber es ist schwer zu sagen, denn mein Rechner ist fast immer an, auch wenn ich gerade etwas anderes tue." Internet neben dem Fernseher, der Uni oder dem Abendessen. Online im Stand-by-Modus.
Rund zwei Drittel aller Deutschen (65 Prozent) nutzen laut der ARD/ZDF-Online-Studie 2008 mehrmals wöchentlich oder täglich das Internet. 2003 waren es erst 53 Prozent. Allerdings gibt es prägnante demografische Unterschiede: Beispielsweise nutzen Männer das Internet häufiger als Frauen. Und: Je jünger die Nutzer sind, desto mehr Zeit verbringen sie pro Tag im Netz. Das Internet ist für sie – vor dem Fernsehen – das Medium Nummer eins.
Teil des Alltags
Mit der Internetnutzung der jüngeren Generation und ihre Auswirkung auf die Gesellschaft beschäftigt sich Jan-Hinrik Schmidt vom Medienforschungsinstitut der Universtät Hamburg. In einer Studie von 2009 befragte er 12- bis 24-Jährige zum Stellenwert des Internets. Es zeigt sich: Das World Wide Web dient dieser Generation nicht in erster Linie als Informationsquelle, sondern als "selbstverständlicher Teil des Alltags". Es ermöglicht Entspannung und Unterhaltung und vor allem die Darstellung der individuellen Interessen, Erlebnisse und Meinungen – also die Selbstinszenierung einzelner.
"Gäbe es kein Internet, müsste ich auf youtube verzichten. Ich könnte ohne leben, das will ich aber nicht", erklärt ein 14-jähriges Mädchen, das bei der Studie befragt wurde. "Ich brauche die Möglichkeit, 24 Stunden am Tag mit Freunden zu kommunizieren", sagt ein 17-jähriger Junge. Was die beiden Jugendlichen beschreiben, unterstreicht Schmidts Forschungsergebnis: Während die tägliche Nutzung von Suchmaschinen wie Google von allen Altersgruppen der Untersuchung gleich hoch ist (rund 90 Prozent nutzen Google mindestens ein Mal pro Woche oder öfter), zeigen sich deutliche Unterschiede, wenn es um soziale Netzwerke wie SchülerVZ oder Instant Messenger – persönliche Chatprogramme – wie ICQ geht. Diese werden gerade von der Gruppe der 15 bis 17-Jährigen deutlich stärker genutzt. Schmidt: "Diese Jugendlichen, die sich in der Pubertät von ihren Eltern lösen, wenden sich ihren Freunden zu. Und das passiert mehr und mehr im Internet." Der Wissenschaftler nennt das "Identitäts- beziehungsweise Beziehungsmanagement", das sich beispielsweise von Vereinen ins Internet verlagert. Er glaubt, dass sich dieser Trend in Zukunft noch verstärken wird.
Surfen mit Pseudonym
Für das Netzwerk SchülerVZ ist Johanna, die Studentin aus Bonn, zu alt. Aber beim Pendant StudiVZ hat sie ein Profil angelegt – natürlich. Wer sie dort sucht, findet sie nicht unter ihrem Namen, sie hat sich ein Pseudonym ausgedacht und es macht ihr Spaß, sich immer wieder neu zu erfinden – mit ausgefallenen Fotos oder neuen Namen. Dass dieser Umgang mit ihren persönlichen Daten zu sorglos sein könnte, befürchtet sie nicht. Im Gegenteil. Sie genießt es, auffindbar zu sein. Laut Schmidt ist dieser Daten-Exhibitionismus im Netz einer der wichtigsten Erfolgsgründe für das Medium. Die Gesellschaft tendiere immer mehr zu einer Veröffentlichung der Privatsphäre. Ob Johanna die Kommunikation über das Internet einem persönlichen Treffen vorzieht? "Natürlich nicht", sagt sie. "Mit meinen echten Freunden treffe ich mich lieber. Aber über das Netz chatte ich oft mit Leuten, die ich sowieso nicht unbedingt getroffen hätte."
Für die einen ist das Internet selbstverständlicher Teil des Alltags, andere sprechen von einer Kulturrevolution. Zum Beispiel Rafael Capurro, Professor an der Hochschule für Medien in Stuttgart. "Wenn man das Internet mit einem kulturellen Umbruch gleichsetzen will, dann mit dem des Buchdrucks", erklärt der Wissenschaftler. Die Erfindung sei eine Antwort auf die damaligen veränderten Bedürfnisse der Menschen: "Die höheren Schichten hatten die Nase voll davon, sich von oben alles sagen zu lassen." Und seit Mitte des 15. Jahrhunderts konnten nun immer mehr und mehr Menschen – wenigstens die reichen – Informationen aus Büchern ziehen. Allerdings dauerte die Massenverbreitung der Bücher Jahrhunderte – im Gegensatz zur Verbreitung des Internets. "Natürlich konnte keiner das Internet vorhersehen", sagt Capurro. Er zieht den Vergleich trotzdem: "Mitte des 19. Jahrhunderts hatten die Menschen möglicherweise die Bevormundung durch die Massenmedien satt." Deshalb kam das Internet "als Antwort auf das soziale Bedürfnis der Selbstdarstellung" der Menschen gerade recht. Das Internet als Medium für die Massen.
Das Web 2.0
Das Phänomen des Internets ist noch jung. Erst vor rund 40 Jahren gab es die erste Verbindung zwischen zwei Rechnern, seit 1991 gibt es das World Wide Web in seiner rudimentären Form. Mit dem Start der Suchmaschine Google im Jahr 1998 nahm das heutige Internet seine Form an. Mit dem Web 2.0, also der Möglichkeit für alle Nutzer, das Internet nicht nur als Datenbank, sondern als Vernetzungs-Plattform für eigene Beiträge, Videos, Fotos oder online-Treffpunkte zu nutzen, wurde das Internet zum "Hybrid-Medium", einem universellen Medium, in dem alle anderen Medien verschmelzen, wie es der Wissenschaftler Schmidt vom Medienforschungsinstitut Hamburg nennt.
In welche Richtung wird es weitergehen? Capurro versucht eine Antwort: "Das Internet steht nur stellvertretend für die Digitalisierung unserer Gesellschaft." Eines der möglichen Szenarien für "Web 3.0 ist das 'Internet-der-Dinge' – der Roboter, der zu Hause putzt, die Waschmaschine, die automatisch wäscht – gesteuert über das Internet." Oder die "Enhancement-Debatte", also die Frage, in wie weit die Digitalisierung, also auch das Internet, die Fähigkeiten des Menschen "verbessern" kann. "Wie schnell das gehen kann, lässt sich unmöglich vorhersagen", sagt Capurro. Jedoch kann er sich vorstellen, dass die Entwicklung der Digitalisierung in den kommenden zehn Jahren weiterhin rasant voranschreiten wird – das ergibt sich allein schon aus den Entwicklungen der vergangenen 20 Jahre. "Das Internet ist kein bloßes Mittel, das wir problemlos beherrschen können." Er denkt dabei an Kinderpornografie, digitales Mobbing oder den Verlust der Privatheit. "Deshalb sind es die gesellschaftlichen Auswirkungen, mit denen wir uns beschäftigen müssen." Deshalb denkt er über die positiven und negativen Utopiegehalte der neuen Technologien - über Fragen der Informationsethik - nach. Denn das Zeitalter der digitalen Technologien bricht erst an.
Mehr Informationen gibt es unter:
International Center for Information Ethics (ICIE)
International Review of Information Ethics (IRIE)
Maike Freund ist freie Journalistin aus Dortmund und schreibt unter anderem für evangelisch.de.