Kita im Seniorenheim: "Buuh - guck mal, wer da kommt!"
Zum zweiten Mal hat die bayerische Landeskirche einen Print-Medienpreis verliehen. Das Thema 2009: Kinder. Unter den Preisträgern, die am Donnerstagabend von Landesbischof Johannes Friedrich in Nürnberg geehrt wurden, war auch "chrismon"-Autorin Ariane Heimbach. Aus diesem Anlass veröffentlicht evangelisch.de im Folgenden ihren Siegertext aus der Kategorie "Magazin".
12.11.2009
Von Ariane Heimbach

So sieht also das Leben kurz vor seinem Ende aus. Man sitzt mit zwei alten Menschen an einem Tisch und schweigt. Morgens, mittags, nachmittags und abends zum Essen. Und in der Zwischenzeit meistens auch. Zur Linken Herr Jerichow mit seinem stillen Lächeln, zur Rechten die mürrische Frau Schmitz, die unter ihrer Vergesslichkeit leidet. Alfred Pohlmann blickt hin und wieder zur geöffneten Tür. 96 Jahre ist er alt, ein großer, inzwischen gebeugter Mann, mit weißem Haarkranz und wachen Augen. Auch die anderen Anwesenden im Raum sagen nichts.

Männer in Trainingshosen und Pantoffeln. Damen in Röcken, Nylonstrümpfen und bunten Strickjacken. Vor ihnen auf den Tischen stehen pinkfarbene Plastikbecher. Sie haben etwas Unwürdiges in dieser Erwachsenenrunde. Leise dudelt das Radio. Ab und zu dröhnt der Saftautomat an der Wand. Sonst ist es still. Die Zeiger der Wanduhr stehen auf kurz vor acht. Es ist eine Stille, die man betreten nennen würde, wäre sie hier nicht völlig normal. Alle scheinen zu warten. Darauf, dass irgendetwas passiert. Aber was?

"Guten Morgen", kräht ein blonder Knirps

"Gleich kommen die Kinder", sagt Herr Pohlmann. Und dann kommen sie, einer nach dem anderen über den Flur gerannt. "Guten Morgen", kräht ein blonder Knirps. "Guten Morgen", ruft es im Chor zurück. Also doch, auch die anderen Leute können reden. Gesprächsfetzen fliegen durch den Raum: "...einen schönen Pullover hast du an... Warum sind deine Haare so weiß?..." Einige Kinder treten vor jeden Heimbewohner. Sie schütteln große Hände, durch deren Pergamenthaut die blauen Adern schimmern, oder lassen sich von ihnen über die Haare streichen. Andere flitzen gleich nach dem Begrüßungsritual schon wieder über den gelb gestrichenen Korridor, vorbei an den Rollatoren, die an der Wand parken, bis zur nächsten Glastür. Denn hier befinden sich die beiden Räume der Kindertagesstätte "Glücksmomente", wo jetzt erst mal gefrühstückt wird. Die hellen Kinderstimmen sind noch eine Weile bis in den Gruppenraum der Senioren zu hören.

[linkbox:nid=6282,4795,4532,5600,388;title=Mehr zu Kindern]

Eine Kita und ein Altenheim unter einem Dach – so etwas gibt es nicht oft in Deutschland. Und wenn überhaupt, dann meist durch die Initiative gemeinnütziger oder kirchlicher Träger. Wie auch hier im brandenburgischen Kirchmöser. Im Seniorenheim der Arbeiterwohlfahrt ist sozusagen eine Utopie Alltag geworden. Die Utopie, dass scheinbar Unvereinbares miteinander existieren kann: Rotznasen und Greise, Vitalität und Gebrechlichkeit, blühendes Leben und naher Tod. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, Anfang und Ende gehören schließlich zum Menschsein dazu. Theoretisch – aber in der Praxis?

Normalerweise werden Kinder- und Altenbetreuung sauber getrennt. Und mal ehrlich, welche Mutter oder welcher Vater möchte schon jeden Tag mit der Tristesse eines Pflegeheims konfrontiert sein? Mit dem oft hartnäckigen Geruch nach Urin und Desinfektionsmitteln. Oder mit dem Anblick eines sabbernden Alten im Rollstuhl. Und dann klettert die niedliche Tochter womöglich noch auf dessen Schoß?

Statt Pflegebetten ein Raum zum Toben

Ob es in Kirchmöser diese inneren Widerstände einmal gab, daran kann oder will sich heute keiner mehr erinnern. Auf jeden Fall entstand auch dieses Projekt vor drei Jahren zunächst nur aus einer Not heraus. Die Stadt hatte die Mittel für Kitas gekürzt, und eine von zwei Kindertagesstätten der Arbeiterwohlfahrt sollte geschlossen werden. Zugleich waren zwei Räume in dem neu gebauten Seniorenheim "Am Wasserturm" noch nicht belegt. Durch Zufall sah eine Mitarbeiterin eine Fernsehdokumentation über Frankreich. Dort gibt es schon länger Kindergärten in Altenheimen.

Sie erzählte ihren Kolleginnen davon, sie recherchierten, fanden heraus, dass es dies auch in anderen europäischen Ländern gibt, und fuhren für zwei Tage nach St. Peter in der Au in Österreich, um sich ein ähnliches Projekt anzusehen. Dann ging alles sehr schnell. Der Innenhof des Seniorenheims wurde zum Spielplatz umgebaut, und die beiden Zimmer im Erdgeschoss, in denen normalerweise vier Pflegebetten stehen könnten, wurden zum Toberaum und Spiel- und Esszimmer umgestaltet.

Eine familiäre Kita, nur 15 Kinder zwischen zwei und sechs Jahren finden hier Platz. Ursprünglich waren nur Vorschulkinder vorgesehen. Sie sollten hier Sozialverhalten lernen, erfahren, wie man mit Schwachen und Kranken respektvoll umgeht. Doch als deren jüngere Geschwister hinzukamen, fiel allen auf, dass die Kleineren viel ungehemmter mit den Gebrechen der Alten umgingen und dies den Senioren offenbar guttat. Inzwischen sind die Kinder, die seit der Kita-Gründung dabei waren, schon in der Schule. Die sieben im Herbst frei gewordenen Plätze waren sofort wieder belegt.

Ähnlich unvernünftig, eigensinnig und verträumt

Offenbar gibt es bei den Eltern dieser Kinder etwas, das stärker wiegt als die Angst vor Krankheit und Tod, diese Angst, die all dies am liebsten aus dem Blickfeld verbannt. Vielleicht ist es die Ahnung, dass beide, Kinder und Alte, sich ziemlich ähnlich sein können – ähnlich unvernünftig, eigensinnig und verträumt. Dass beide gern Lieder singen und immer wieder dieselben Geschichten erzählen oder hören wollen. Und dass sie deshalb auch voneinander profitieren können.

Und vielleicht ist es kein Zufall, dass dieses kleine gesellschaftspolitische Experiment, das man im Großen "Dialog der Generationen" nennt, ausgerechnet im Osten Deutschlands geschieht. In einem idyllischen Landstrich, der von den mä­andernden Flussläufen der Havel durchzogen ist und dessen Bewohner immer älter werden. Schon jetzt ist hier jeder Vierte über 65 Jahre alt.

Von außen betrachtet stehen in Kirchmöser alle Zeichen auf Verfall: Das ehemals schöne Bahnhofsgebäude steht leer, ebenso die Werksbauten der Reichsbahn, bei der vor zwanzig Jahren noch die meisten Bewohner arbeiteten, etliche Geschäfte sind geräumt, und auch die Grundschule im westlichen Stadtteil ist geschlossen. Ihr direkt gegenüber liegt das einstöckige Seniorenzentrum "Am Wasserturm". Ein orangener Fleck im Einheitsgrau der umstehenden Häuser, umringt von Hecken, wildem Wein und Obstbäumen. Im Sommer, heißt es, toben die Kinder draußen herum, bespritzen sich mit Wasser, und die Senioren tummeln sich dazwischen, manche auf ihren Rollstühlen, andere auf den Bänken.

Kein Zwang zur Fröhlichkeit

Doch heute versinkt der Garten im Matsch. Der Regen umschließt das Haus wie mit einem feinen Netz. Die Kinder sind in ihren Räumen, die Heimbewohner auf ihren Zimmern oder im Gruppenraum. Alle wirken etwas befangen. Das ändert sich erst, als die Sozialtherapeutin Roswitha Brüll durch die Gänge eilt, Zimmertüren öffnet, Stubenhocker aufrüttelt und die Senioren im Gruppenraum aus ihrer Apathie reißt. Die 56-Jährige mit dem praktischen Kurzhaarschnitt ist die Seele des Hauses. Eine Frau, die von sich sagt, dass ihr nichts fremd sei. Die schon selbst einen harten Kampf gegen eine Krankheit durchgefochten hat. Sie beschönigt nichts: "Fast ein Drittel der Heimbewohner leidet unter Depressionen. "

Die Frauen und Männer, die hier im sogenannten Ruhestand leben, haben ihr Leben lang für sich selbst gesorgt: als Näherinnen, Verkäuferinnen, Bauingenieure, Bahnangestellte. Nun sind sie abhängig von der Hilfe anderer. Und die eigene Unzulänglichkeit macht ihnen zu schaffen. Frau Brüll gesteht ihnen ihre Niedergeschlagenheit zu. "Wer morgens im Bett bleiben will, Decke über den Kopf, darf das." Bloß kein Zwang zur Fröhlichkeit!

Aber man kann es ja versuchen. 9.30 Uhr. Die emsige Sozialtherapeutin bemüht sich, jeden Einzelnen für einen kleinen Ausflug in den ersten Stock zu begeistern, wo sie einmal wöchentlich eine Begegnung mit den Kindern veranstaltet. Anfangs ist der Stuhlkreis noch leer. Nur Alfred Pohlmann und Frau Schmitz, die fast alles gemeinsam machen, sitzen schon da und warten. Der alte Mann nimmt stets an den Spielevormittagen teil. Sein ganzer Körper, dem man noch ansieht, wie athletisch er einmal war, scheint sich auf seinen Einsatz zu freuen. Unruhig rutscht er auf dem Stuhl hin und her. Allmählich trudeln immer mehr Senioren ein. Kurz entspinnt sich ein Gerangel mit den Rollatoren, die überall im Weg herumstehen. Frau Leng, ziemlich verwirrt, aber flink wie ein Wiesel, springt plötzlich auf und flüchtet wieder. Die Kinder, die gerade hereinstürmen, müssen ihr ausweichen, um nicht überrannt zu werden.

Gemeinsames Singen vertreibt die Missstimmung

Doch beim gemeinsamen Singen ist die Missstimmung schnell verflogen. Die Gesichter der Alten entspannen sich. Heruntergezogene Mundwinkel heben sich zu einem Lächeln. Selbst Frau Schmitz' Laune hellt sich auf. Und auch wenn sie fast alles, was sie gerade erlebt hat, im nächsten Moment vergisst – an manche der alten Kinderlieder erinnert sie sich noch wortgenau. Die Lieder holen selbst die schwerer an Demenz erkrankten Heimbewohner für Momente aus ihrer versunkenen Welt heraus. Eine zerbrechliche Dame sitzt in sich zusammengekrümmt auf ihrem Stuhl, aber ihre Hände klatschen zaghaft im Takt mit.

Dann geht es etwas sportlicher zu. Erst steht Luftballonwerfen auf dem Programm, danach müssen die Alten versuchen, einen Ball in das Loch eines Schwungtuchs zu balancieren. Diejenigen, die den Stoff am Rand halten, können dabei ihre Armmuskeln trainieren. Die Kinder tummeln sich kreischend darunter oder lugen aus dem Loch. Hinterher sind alle so gelöst, dass die Kleinen hemmungslos auf "Uropa Pohlmanns Schoß klettern und sich später von ihm mit dem Rollator über den Korridor schieben lassen. Der alte Mann strahlt."

Natürlich gibt es auch Senioren, die finden das Ganze nur albern. "Die sagen: Das ist ja wie im Kindergarten", erzählt die Therapeutin. "Und das ist es ja auch wirklich", fügt sie lachend hinzu.

Der Eigenbrötler und das Mädchen

Günther Gerloff, ein schmaler 83-Jähriger, verlässt sein Zimmer nur selten. In seinem früheren Leben war er Kaufmann und Rundfunkmechaniker. Heute, sagt er, machen seine Beine nicht mehr mit, "aber im Kopf bin ich noch klar". Zu den schweigenden Alten im Gruppenraum will er nicht gehören. Lieber sitzt er am geöffneten Fenster und löst Kreuzworträtsel. Vor vier Jahren kam er ins Heim. Seine Frau war gestorben, allein kam er nicht mehr zurecht. Anfangs wollte er mit niemandem etwas zu tun haben. Und vor den lärmenden Kindern graute es ihm. Noch jetzt spottet er über den Namen der Kita: "Glücksmomente, darunter stelle ich mir was anderes vor." Dabei muss er zugeben, dass er ähnliche Momente durchaus in den letzten zwei Jahren erlebt hat. Ausgerechnet er, der Eigenbrötler, freundete sich mit einem Mädchen an.

Für Pauline war er schlicht: Opa Gerloff. Fast jeden Tag besuchte sie ihn einmal auf seinem Zimmer. Doch inzwischen geht Pauline zur Schule. Auf dem Tisch steht ein Bilderrahmen mit einem Foto von ihr. Manchmal schickt sie noch Postkarten. Nein, schmerzen würde ihn dieser Verlust nicht, sagt Herr Gerloff. "Schmerzen sind was anderes." Aber er vermisse ihre ansteckende Fröhlichkeit. Zumal er mit den Kindern, die jetzt in der Kita sind, nichts anfangen kann. "Die sind zu klein. Die verstehen mich nicht, und ich versteh' die auch nicht." Aber sie wachsen ja, lernen besser sprechen. Und er beobachtet das. Von seinem Fenster aus kann er sie sehen, wenn sie bei schönen Wetter im Garten spielen. Manchmal stellt er sich draußen vor die geöffnete Balkontür, um eine Zigarette zu rauchen. Die Kinder kommen dann sofort zu ihm, umringen ihn mit ihren neugierigen Fragen. Weggeschickt hat er sie noch nie.

Herr Pohlmann erzählt immer die gleiche Geschichte

Nach dem Mittagessen wird es wieder ruhig im Haus. Die Kinder schlafen bis 14 Uhr. Einige der Alten ziehen sich ebenfalls zurück. Spätestens zum Kaffee sitzen sie wieder im Gruppenraum. Und warten. Herr Pohlmann versucht ein zaghaftes Gespräch mit Frau Schmitz. "Früher sind wir ja oft raus mit Mütze und Schal und haben den Verkehr geregelt." Sie: "Pah, wir haben geguckt, wie die Autos vorbeifuhren." Dann sagen sie nichts mehr. Plötzlich kommt der vierjährige Janek herein und zieht an Herrn Pohlmanns Arm. Er soll eine Geschichte erzählen. Der alte Mann lässt sich schnell überreden und folgt dem Jungen in den Kita-Raum. Und dann erzählt er wieder von seiner Kindheit auf dem Hof seiner Eltern in den 20er Jahren, seinem Hund Schermi, den Schafen, und ein Rehkitz kommt auch vor. Es ist immer die gleiche Geschichte.

Und eigentlich ist es auch gar keine Geschichte, denn sie hat keinen Anfang und kein Ende. Herr Pohlmann wiederholt sich, er bewegt sich im Kreis, doch die Kinder, die vor ihm auf dem Boden sitzen, scheint das nicht zu stören. Erst nach etwa zehn Minuten ruft Janek forsch dazwischen: "Vorbei?" Und noch ein Kind: "Zu Ende?" Herr Pohlmann reagiert nicht gekränkt, er reagiert überhaupt nicht, sondern spricht einfach weiter. Bis die Erzieherin ihm sanft erklärt, dass die Kinder nun ungeduldig würden.

Für ihn aber, und das ist vielleicht das Beste am Geschichtenerzählen, geht es erst richtig los. Er sitzt schon wieder an seinem Platz im Gruppenraum vor dem pinkfarbenen Saftbecher und sprudelt immer noch weiter. Frau Schmitz starrt ihn an. Hört sie überhaupt zu? Einmal fehlt ihm ein Wort, er sucht, schlingert, seine Stirn kräuselt sich vor Anstrengung, es fällt ihm nicht ein. Und plötzlich sagt Frau Schmitz: "Toben." Nur das eine Wort, das ihm gefehlt hat. Herr Pohlmann sieht sie einen Moment lang überglücklich an.