Bittere 24 Stunden in Neustadt
St. Martin kommt, hoch zu Ross – doch er führt am Abend des 11. November in Mariensee keinen fröhlichen Martinsumzug an. Es ist eher ein Trauermarsch, der sich am Gemeindehaus in Bewegung setzt – 24 Stunden, nachdem sich Robert Enke, Mitglied der Gemeinde, im nahen Eilvese das Leben genommen hat. "Wir denken an ihn, zünden für ihn die Kerzen an", sagt Pastorin Christina Norzel-Weiß, "Enke war, wie St. Martin, ein Freund der Kinder." Norzel-Weiß ist eine gute Pastorin, eine Frau, die ihre Gemeinde und den Umgang mit Menschen liebt. Die keines Vorgesetzten bedarf, um die richtigen Worte zu finden. Bis gestern: Norzel-Weiß hat Neustadts Superintendenten Michael Hagen um Unterstützung gebeten. Zu viele Medienvertreter aus zu vielen Ländern hatten versucht, sie zu erreichen. Seit gestern stimmt die Superintendentur Interview und Terminwünsche ab.
Der Tod Enkes hat tiefe Betroffenheit unter Menschen ausgelöst, die ihn – wie doch mittlerweile recht viele Neustädter – persönlich kannten, oder die ihm auch "nur" im Stadion oder am Fernsehschirm zugejubelt haben. Der Tod Enkes ist aber auch ein Medienereignis. Deutsche, spanische, portugiesische und englische Journalisten pendelten gestern zwischen Hannover (Pressekonferenz mit Teresa Enke) und Neustadt: auf der Suche nach exklusiven Zitaten und Fotomotiven.
"Objektschutz" stand gestern auf dem Dienstplan von Polizisten aus Neustadt und benachbarten Revieren. Es galt vor allem, die Privatsphäre der Familie Enke vor allzu neugierigen Medienmachern zu schützen – und manchen Fan vor sich selbst: So standen Beamte von den frühen Morgenstunden an in der Nähe der Gleisanlagen bei Eilvese. Niemand sollte in die Versuchung geraten, zum persönlichen Abschied vom Idol selbst die Gleise zu betreten. "Robert Enke hat mal zu mir gesagt: Ich kann doch nur den Ball besser fangen als ihr", sagte einer seiner Fans am Eilveser Bahnhof.
Ein Torwart schreibt dem Torwart
Er ist Torwart wie sein großes Vorbild Robert Enke: André Dai (12) aus Bordenau steht mit Vorliebe im Tor, trägt dort mit Stolz sein Enke-Trikot. Am Dienstagabend dann der Schock für den Jungen: Seine Tante ruft an, erzählt André, sie habe im Autoradio etwas vom Tod eines Nationalspielers gehört. André schaut sofort im Internet nach. "Es ist wahr", sagt er mit Tränen in den Augen, als er zurück aus seinem Zimmer kommt. "Robert Enke ist tot." Der Zwölfjährige und seine Familie sind fassungslos. Sie sitzen bis zum späten Abend zusammen, versuchen, weitere Informationen aus dem Fernsehen und dem Internet zu bekommen.
Die Eltern versuchen, den Kindern zu vermitteln, "dass ein Freitod keine Lösung für Probleme ist". Gestern morgen klingelt Andrés Wecker um 6.30 Uhr. Noch vor der Schule liest er die Zeitung, surft durchs Internet. "Es ist wichtig, sich von einem Menschen, den man verehrt hat, auch zu verabschieden", sagt sein Vater Reinhold. Nach der Schule schreibt André einen Abschiedsbrief, den er zusammen mit seinem Vater nach Eilvese bringt. Anschließend fahren beide nach Hannover, trauern mit anderen Fans am Stadion – dort, wo André seinem Idol so oft zugejubelt hat.
Am Wochenende Gedenkminute auf den Plätzen
Neustadts Fußballer werden bei ihren Spielen am Wochenende eine Gedenkminute für Robert Enke einlegen. "Robert war ein tadelloser Sportsmann. Wir sind völlig fassungslos", sagte Jürgen Wagner, Trainer des STK Eilvese. Die Eilveser Kicker hatten am Dienstagabend Training auf dem Sportplatz des Dorfes. Bald wurde ihnen klar, dass etwas passiert sein musste. Der nahe Bahnhof war in gleißendes Licht getaucht, während immer mehr Rettungskräfte anrückten und dort ihre Arbeit aufnahmen. Zudem hatte Spieler Ersin Toprakli bei seiner Anfahrt schon an der Station Neustadt aussteigen müssen – der Zug fuhr nicht weiter. Der sportliche Leiter Manfred Bißmeier brachte den Eilvesern schließlich die schlimme Kunde. "Ich hätte das nie für möglich gehalten", sagte Wagner und war gestern hörbar um Fassung bemüht. Das Tagesgeschehen verliere bei derlei Vorkommnissen an Bedeutung.
Auch die Einsatzkräfte brauchen Beistand
Ein Unglück, bei dem Menschen – berühmt oder nicht – ums Leben kommen, fordert Betroffenen wie Einsatzkräften eine Menge ab. Zwei Notfallseelsorger kümmerten sich am Dienstagabend um sie: Michael Lühring, Soldat, Feuerwehrmann und als Notfallhelfer geschult, und Liebfrauen-Pastor Christoph Bruns. Bruns kümmerte sich um Teresa Enke, die kurz nach den Einsatzkräften an der Unfallstelle erschien und dort weinend zusammenbrach. "Ich kannte Frau Enke nicht. Ich habe erst realisiert, dass es sich um die Ehefrau handelt, als wir bei ihr zu Hause waren", sagte Bruns betroffen.
Lühring nahm sich an der Unglücksstelle der Feuerwehrleute an. "Nach dem Einsatz haben wir die Geschehnisse Revue passieren lassen", sagt er. Was genau mit Einzelnen besprochen wurde, bleibt vertraulich. Die nächsten vier Wochen, sagt Lühring, seien in solchen Fällen entscheidend für die seelische Gesundung der Helfer. Für weitere Gespräche steht Lühring bereit. Erfahrungsgemäß stark betroffen von Selbstmorden auf den Gleisen sind die betroffenen Lokführer. Ein 42-Jähriger steuerte am Dienstag den Regionalexpress. Er wird psychologisch betreut.
Die vier Textabschnitte sind als einzelne Artikel in der Leine-Zeitung Neustadt vom 12. November 2009 erschienenen. Wir veröffenltlichen sie hier mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.