Straßenmagazin: Stimme der Obdachlosen
Seit fast 15 Jahren erscheint in Dortmund und Bochum das Straßenmagazin bodo. Gemacht von einem festen Redaktionsteam, verkauft von Obdachlosen, will bodo Menschen Perspektiven geben, die durch die meisten Raster gefallen sind.
10.11.2009
Von Miriam Bunjes

Adolf Timpe steht seit 14 Jahren hier. Mitten auf dem Westenhellweg - Dortmunds Einkaufsstraßen - zwischen Schuhgeschäft, Kaufhaus und Großbuchhandel ruft der 76-Jährige. "Bodo, bodo, hier gibt´s die bodo." Bodo ist der Name einer Monatszeitung und steht für Bochum und Dortmund. Dort und in den kleineren angrenzenden Städten erscheint seit knapp 15 Jahren die Zeitung, die Adolf Timpe rufend vor sich her trägt. "Früher stand da drunter Obdachlosenzeitung", sagt Timpe. "Heute heißt das Straßenmagazin." Er findet das richtig. "Es sind ja auch gar nicht mehr alle Verkäufer obdachlos und darum geht es ja auch."

Adolf Timpe ist einer von 50 Verkäufern, die das Straßenmagazin in den Innenstädten von Bochum, Dortmund, Schwerte, Herne und Castrop-Rauxel vertreiben. 1,50 Euro kostet das monatlich neu erscheinende Blatt. 60 Cent davon sind für den Verkäufer. Manchmal gibt es auch Trinkgeld. Timpe verkauft fast jeden Tag, steht morgens schon in der Stadt. "Ohne bodo wäre ich damals vor die Hunde gegangen", sagt er.

Damals, vor 14 Jahren, lebte Adolf Timpe auf den Dortmunder Straßen und war "jeden Tag besoffen", erzählt er. Süchtig war er, verlor dadurch den Job und die Wohnung. In der Innenstadt traf er einen der allerersten bodo-Verkäufer. Der Rest der Geschichte ist eine – nicht ganz klassische – Erfolgsgeschichte. Timpe ging zur bodo-Redaktion, um sich auch mit Zeitungen einzudecken. Dabei lernte er die erste Regel kennen: Vollgedröhnt darf keiner Zeitungen verkaufen. Timpe kriegte Wasser und Pfefferminzbonbons und musste warten, bevor er loslegen durfte. Der Zeitungsverkäufer sieht an sich herunter: Blitzsaubere schwarze Schnürschuhe, eine frisch gewaschene Jeans. Er lächelt. "So sah ich damals nicht aus." Und trotzdem: Beim Zeitungsverkaufen lernte er seine jetzige Lebensgefährtin kennen. Zusammen mit ihr hat er inzwischen eine Wohnung. Getrunken hat er seit 13 Jahren keinen Tropfen mehr und auch nicht geraucht. "Ich habe seitdem eine Arbeit und eine Frau, die mir wichtig sind. Was soll ich mich da zu Tode rauchen und trinken?"

Struktur in den Tag


Für Timpe hat das bodo-Konzept funktioniert: Die Arbeit als Verkäufer soll Struktur in den Tag bringen, Motivation in Leben bringen, die in Sackgassen geraten sind – Hilfe zur Selbsthilfe eben. Die meisten Verkäufer haben jahrelange Suchtkarrieren, Obdachlosigkeit und Gewalt hinter sich und kämpfen mit psychischen und körperlichen Krankheiten. "Durch die Arbeit hier bekommen sie eine Tagesstruktur, lernen mit Geld umzugehen und bekommen neues Selbstbewusstsein", sagt Bastian Pütte, seit April Chefredakteur der bodo. "Für manche steht am Ende der Sprung in den ersten Arbeitsmarkt." Das Wort "Chefredakteur" vermeidet er eigentlich. Denn er ist der einzige Redakteur der Zeitung. Die anderen sind freie Autoren, wie es auch Pütte drei Jahre lang war. "Die Zeitung entsteht aber im Team", sagt der 34-Jährige.

Die Redaktion ist ein durch ein Bücherregal abgetrennter Raum voller Akten und Zettel in der Dortmunder Nordstadt, dem größten sozialen Brennpunkt der Stadt. "Bodos Bücherbasar" steht an der Hauswand und als solcher ist das Erdgeschoss auch in erster Linie bekannt: Hier verkauft der Verein bodo gebrauchte Bücher. Und hier holen sich die Verkäufer die Zeitungen ab. 11.000 Exemplare werden jeden Monat gedruckt und in Bodos Bücherbasar angeliefert. Abgeholt werden können sie an jedem beliebigen Tag – gegen Geld. 90 Cent zahlen die Verkäufer pro Zeitungsexemplar. Jeder holt sich so viele Zeitungen, wie er schafft. "Damit können wir uns finanziell so einigermaßen über Wasser halten", sagt Pütter. Umsonst an die Verkäufer verteilen, kann bodo die Zeitungen nicht. "Für unsere Träger, die vom Heroin loskommen wollen, wäre das auch ein Problem, wenn da riesige Gewinnspannen drauf wären", sagt Pütter.

Jobs für Menschen in Not 


Der Umsatz der Zeitung reicht jedoch nicht für die Existenz des Blattes – dem einfachsten Arbeitsangebot des Vereins. In beiden Städten gibt es einen bodo-Trödelladen, in Dortmund den Bücherladen, der auch einen Online-Versand anbietet und ein kleines Umzugsunternehmen – alle bieten Jobs für Menschen in Not: Im ganzen sieben volle Stellen, 13 400-Euro-Jobs und elf Honorarkräfte – das sind die freien Journalisten, Fotografen und Layouter. Sie weiter bezahlen zu können, ist das Wirtschaftsziel. "Wir verteilen das Geld so auf die Projektsäulen, dass es für alle reicht", sagt Pütter. "Die Läden und das Umzugsunternehmen laufen ganz gut und können die Zeitung mitziehen."


Über seinen eigenen Verdienst will er nichts Genaues sagen. "Ich habe eine halbe Stelle, den Rest der Arbeit mache ich ehrenamtlich", sagt er. Nebenbei macht er ein Fernstudium für Non-Profit-Management, vor seinem bodo Engagement hat der studierte Historiker Öffentlichkeitsarbeit für das Dortmunder Kinderschutzzentrum gemacht. "Journalistisch ist bodo eine Gratwanderung", sagt er. "Wir wollen der Bevölkerung ein breites Spektrum an Themen bieten, aber wir sind gleichzeitig eine Vereinszeitung, die klare Akzente in der Sozialpolitik setzen will und eben die Themen der Straße kennt." Sozialreportagen haben daher neben Kultur- und Veranstaltungstipps einen prominenten Platz in bodo – in der Novemberausgabe (http://www.bodoev.de/) geht es um das Dortmunder Obdachlosenfußballteam. Das Ressort "Strassenleben" stellt aber auch andere Menschen in den Mittelpunkt, deren Arbeit und Leben sich auf der Straße abspielt: Kinder auf dem Schulweg, Straßenkehrer, Schrottsammler – "wir wollen damit zeigen, dass Straßenleben ein Teil von allen ist", sagt der Chefredakteur. Trends und Probleme aus sozialen Bereichen werden kommentiert und analysiert – "da sehen wir uns auch als Sprachrohr", sagt Pütte. "Wir passen aber auf, dass das nicht zu viel und nicht zu speziell wird, damit wir die Leser nicht damit langweilen."

Blattkritik


Einfluss auf das Blatt nehmen bei der monatlichen Käuferversammlung auch die Zeitungsverkäufer. Dort werden die Stellplätze verteilt, über Regelverstöße diskutiert und auch die Ausgabe kritisiert. "Nicht alle sind inhaltlich an der Zeitung interessiert", sagt Pütter. "Das muss aber auch nicht sein. Sie identifizieren sich dennoch mit bodo. Wenn einer der Verkäufer sich gegenüber Kunden unfreundlich verhält oder sonst irgendwie Ärger macht, stört sie das, weil es auch auf sie zurückfällt." Ein wichtiger Schritt zur Eigenverantwortung, findet Pütter.


Adolf Timpe will bis zum Lebensende bodos verkaufen. "Da sind Sie ja endlich", ruf eine Frau im grauen Kostüm. Sie kauft die bodo für fünf Euro. Elf Stück will Timpe heute noch loswerden, danach hat er noch Termine, sagt er. "Ich bin schon ins Rathaus eingeladen worden und zu mehreren Gemeindefesten, weil ich so viele Leute durch meinen Beruf kennengelernt habe", sagt der bodo-Verkäufer. "Die Arbeit hier auf der Straße geht für mich aber vor."


Miriam Bunjes ist freie Journalist und lebt in Dortmund.