Erzählung: Die Geschichte einer Freundschaft
Herr K. ist ein besonderer Mann. Stets hat er eine Pfeife im Mundwinkel, er bettelt nicht, er redet nicht. Aber er wird doch zu einem wunderbaren Freund.
10.11.2009
Von Ingrid Bahß

Liebe Anna,

ich sitze in meinem Lieblingscafé und schreibe Dir einen Brief. Plötzlich habe ich die innere Sicherheit, Dir auf Deine Frage vom letzten Mittwoch antworten zu können. Du standest nachdenklich im Wohnzimmer. Und plötzlich hast Du gefragt: "...Oooooomaaaa, sag mal, welche sind deine liebsten Menschen...?" Ich verlagerte mein Gewicht auf den anderen Fuß, kratze mich an der Stirn... dachte nach... "Du, Chrissi, meine Mutter, Opi, Sarah, Irmgard, Liesi, Georg, Anita, Christian, Ewa, Herr K. ..." Herr K.!? Ich staune, wie selbstverständlich ich Herrn K. nenne, wenn es um die wichtige Frage nach meinen liebsten Menschen geht. Dann konnten wir nicht weiter miteinander erzählen, Du musstest nach Hause. Heute sollst Du erfahren, wie Herr K. mein Freund geworden ist. Nimm Dir Zeit für meinen Brief, denn eine schnelle Antwort gibt es nicht. Setz dich gemütlich aufs Sofa, am besten in die kuschelige Ecke.

1992 war ein aufregendes Jahr für mich. Mit 43 Jahren habe ich mit großer Aufregung eine neue Arbeitsstelle angetreten. Täglich um 8 Uhr machte ich mich mit dem Fahrrad auf den Weg. Der Weg führte mich hinter dem Haus quer über den Platz. Auf diesem Weg begegneten mir über die Jahre immer wieder dieselben Gesichter. Wir wurden uns vertraut. Der Alte mit der ewigen Pfeife im Mund gehört zu ihnen.  Er stand Tag für Tag in seinem Stehquadrat nahe am Haus, die Pfeife im Mundwinkel. Er schien sich nicht zu rühren, trug stets dieselben Jeans. Nur die Mütze wechselte je nach Wetter. War es kalt, war es die russische Pelzmütze mit den Ohrenklappen, an warmen Tagen die Baseballkappe. Der Alte hatte Ruhe zu verschenken. Ich fuhr vorbei – jeden Morgen um 8 Uhr. Außer am Freitag. Nickte im Vorbeifahren rüber. Mal sehen, ob der Alte reagiert. Nichts. Zeit verging. Hin und wieder dachte ich darüber nach, wer er wohl sein mag, dieser alte stolze Mann, der aus seinem Quadrat nicht weicht, der kein Geld annimmt, der unbeirrt steht, der nicht mit den anderen von der Bank palavert, nichts tut und zu meinem Erstaunen trotzdem einen zufriedenen Eindruck macht...

"Verloren, weg..."

Es war am 25. Mai 1992, ich erinnere mich so genau an dieses Datum, weil meine Mutter da Geburtstag hat. Ich döse mit dem Rad in den Tag hinein, werfe dem Alten meinen gewohnten Nick-Blick zu... Etwas war anders an diesem Tag. Irgendetwas fehlte im vertrauten Bild... Die Pfeife! Genug Anlass für mich, den Alten anzusprechen und nach seiner Pfeife zu fragen. "Verloren, weg...", meinte er lakonisch. Du weißt ja, Anna, dass Opi Pfeifenraucher ist. Er rückte dann auch ein Stück aus seiner Sammlung heraus. Als ich am nächsten Tag rechts durch die Durchfahrt und dann auf den Platz einbiege, hoffe ich, dass der Alte da ist. Ich bin aufgeregt und verschämt und würde ihm am liebsten Pfeife und Tabak so geben, dass er es erst bemerkt, wenn ich schon über alle Berge bin. Geht aber nicht, er steht in seinem Stehquadrat und ist wie immer aufmerksam. Also übergebe ich ihm linkisch und hilflos Pfeife und Tabak. Der Alte nimmt die Sachen kommentarlos an, ohne Dank... So kommentarlos und aufmerksam, wie er sich auch in den folgenden Jahren unserer Freundschaft nie für Geschenke bedanken wird. Sie fast unbeachtet übernimmt und ablegt. Also fahre ich an diesem Tag schnell weiter. Wieder vergehen Tage, Wochen, Monate.

Ich begrüße den Alten beim morgendlichen Vorbeifahren in gewohnter Weise – wünsche mir, dass er meinen Gruß registriert. Ich will ihm wichtig werden. Doch er tut keinen Schritt über die Grenzen seines Quadrat meters hinaus, wenn ich komme. Trotzdem: Eines ist anders geworden. Wenn ich komme, guckt er in meine Richtung. Einmal höre ich, wie ihn einer von der Bank her anspricht: "Hallo Horschti..." Keine Antwort. Mir ist klar, dass er einer von ihnen ist, wohnungslos. Und doch auch wieder keiner von ihnen. Penner nerven oft, wenn sie mich anschnorren und ich mich in der moralischen Falle fühle. Franz zum Beispiel, der sich morgens am Eingang zur Sparkasse aufhält und nicht lockerlässt... Doch der da tut nichts dergleichen.

Da ist es!

Irgendwann frage ich mich, warum mich gerade dieser Alte interessiert. Die Frage bleibt über viele Jahre unbeantwortet. Ich spüre, dass es einen tieferen Grund gibt. Der Alte steht einfach da, lässt kommen, was kommen soll... diese Pfeife, diese brüchigen Hände, diese Gelassenheit... Eines Morgens fahre ich unvermutet aus einer anderen Richtung auf den Alten zu. Er steht scheinbar wie immer mit der Pfeife im Mund und erwartet mich aus der gewohnten Richtung. Die rechte Hand hält die Pfeife, die linke Hand hängt am Körper herunter. Da ist es! Ich bleibe wie vom Donner gerührt stehen. Ja, das ist es: mein Vater! Anna, Du kannst Dir nicht vorstellen, wie mich diese plötzliche Erkenntnis, dass mich der Alte an meinen Vater erinnert, aus den Schuhen gehauen hat. Genau das war es! Diese Hände! Dieses Stehen auf einem Fleck! Diese Art, die ewige Pfeife im Mund hängen zu lassen! Die gebeugte Körperhaltung. Vater ein Einzelgänger – Herr K. ein Einzelgänger.

Der Alte erinnerte mich also an meinen Vater, der 1986 aus dieser Welt verabschiedet wurde. Tage später nehme ich meinen gewohnten Weg zur Arbeit. Der Alte ist aus dem Stehquadrat herausgetreten, hält nach mir Ausschau. Ich erinnere mich, dass er auf meinen Gruß zurückbrummt: "Wohl Sozialarbeiter..." Ich dann: "Neeeee..." An einem der nächsten Tage ist mir danach zumute, den Alten anzusprechen, ich will einen Schritt auf ihn zugehen, ihn kennenlernen. Meine Neugier ist ein Mutmacher. Dann haben wir uns über dieses und jenes unterhalten. In der nächsten Zeit passierte viel in der Beziehung zum alten Schnauzbart, wie er sich später oft nannte.

Eines späten Abends ging ich mit D. in die Kneipe. Wir hatten Lust, über den Chlodwigplatz zu gehen. Ich zeigte D. den Stehplatz vom Alten und erzählte ihm von unseren Begegnungen. Das klang nicht sehr aufregend. Es war stockdunkel. In Gedanken war ich noch immer bei diesem verrückten Alten. Auf einmal Verblüffung: Der Alte kommt uns mit gekrümmtem Rücken entgegen. Erkennt mich nicht sofort. Jetzt kann ich D. den Alten vorstellen. Ich bin stolz. Plötzlich wird mir bewusst, wie wichtig mir der Alte schon ist. Jahre später wird mir Herr K. wieder und wieder über diese nächtliche Begegnung jenseits des Stehquadrates erzählen. Immer haargenau. Nach Jahren spüre ich noch immer die Freude in mir, als ich den Alten plötzlich aus dem Dunkel auftauchen sehe. Zu dieser Zeit wussten wir so gut wie nichts voneinander. Eigentlich nur das: Er raucht Pfeife, er will am liebsten allein sein, er pflegt sein Stehquadrat, sein Tabak ist der Schwarze Krauser, er bettelt nicht, er ist stolz, er bedankt sich nicht für Geschenke.

Der Schnauzbart fehlte mir

Damals müsste der Alte 70 Jahre alt gewesen sein. Kurze Zeit nach unserer nächtlichen Begegnung war der Alte von seinem Platz verschwunden. Sein Stehquadrat blieb leer. Ich begann, mir Sorgen zu machen. Der Schnauzbart fehlte mir. Auch die Leute von der Bank wussten nicht mehr als ich. Einer wies mit dem Zeigefinger der rechten Hand über die linke Schulter in Richtung Johanneshaus. In dieser Zeit kannte ich das Obdachlosenhaus vom Vorbeifahren, sah die Männer vor der Einfahrt stehen. Obwohl das Leben für sie nichts bereitzuhalten schien, auf das man sich hinfreuen konnte, schienen sie nicht unglücklich zu sein... ich wusste nicht... Fenster standen auf und der fröhliche Jupp grüßte mit einem Heiratsantrag. Der Alte war also verschwunden. Ich habe ihn gesucht. Und der eine hatte zum Johanneshaus gezeigt.Ich habe den Pförtner nach dem Alten gefragt und ihn beschrieben. Der gab unwillig Auskunft. "Ein Alter mit einer Pfeife... vielleicht in der Cafeteria..."

Ich hätte den Alten an jedem Ort der Stadt gesucht. Ich wollte ihn nicht mehr missen. Franz und Monika, die sich in einem Atemzuge lieben und hassen, schoben mich mit ihren Blicken in Richtung Cafeteria. Der Hof ist bebildert von Leuten, die rauchen und trinken, einige schlafen, Männer in Arbeitskleidung eilen über den Hof. Ich musste den ganzen Mut zusammennehmen, als ich die Cafeteria betrat. Verflixt, wie schön! Der Alte war da, er saß hinten links auf einem Platz. Dort finde ich ihn in Zukunft immer.

Mit Blick in Richtung Tür und Kaffee - klappe. Im Laufe der Jahre erlebe ich dort eine Höflichkeit und Wärme eigener Art. Ich bin in der Cafeteria von ehemaligen Handwerkern, Busfahrern, Akademikern, Arbeitern umgeben. Und immer wieder verschwinden Gesichter für immer und neue tauchen auf. Der Alte hat seinen Platz vom Stehquadrat zur Cafeteria gewechselt. Dort sitzt er nun vom frühen Morgen bis zum späten Abend auf seinem Stammplatz. Sein Schlafplatz befindet sich hinter den Markthallen. Zu meiner Freude ist der Alte nicht sehr erstaunt, dass ich komme. Die anderen werden dem Alten bei meinem zweiten Besuch zurufen: "....Horschti, dein Vormund kommt". Wir werden das nicht kommentieren. Nur gebetene Gäste dürfen sich an seinen Tisch setzen, Blume zum Beispiel, der kurz nach meinem Auftauchen für immer verschwunden ist.

Tippeltour Richtung Süden

Ich habe seit diesem ersten Besuch in der Cafeteria auch meinen Stammplatz. Natürlich dem Alten gegenüber. Der begrüßt mich mit seinen abgearbeiteten rauen Händen. Der Händedruck ist kräftig, fast grob. Und wieder werde ich an meinen Vater erinnert. Später wärmt mir der Alte meine Hände. Bevor Blume stirbt, macht er sich mit dem Alten noch einmal auf Tippeltour in Richtung Süden. Träume erfüllen. Doch die beiden sind nicht mehr jung. Blume jünger, aber kraftloser, bleibt einfach auf der Bank sitzen, kehrt um. Der Alte geht weiter. Als ich von einer Polizeistation in Rheinland-Pfalz angerufen werde, weiß ich, dass meine Telefonnummer in der Geldbörse des Alten ihren Sinn erfüllt hat. Man hatte den Alten völlig durchnässt und zitternd in einer Telefonzelle gefunden. Das Johanneshaus sorgt dafür, dass er in den Zug nach Köln gesetzt wird. Wie schön für mich, den Schnauzbart wieder in der Nähe zu wissen.

Mit all seinen Verrücktheiten steht mir der Alte in dieser Zeit sehr nahe. In der folgenden Zeit war ich oft bei Herrn K. Seinen Familiennamen habe ich irgendwann erfahren. Und meinen muss er auch kennen. Einmal erzählte er mir, dass er hin und wieder um unser Haus geht und durch das Fenster gesehen hat, dass ich ein Foto von ihm an der Wand habe. Da hatte er recht. Einmal habe ich es geschafft, ihn zu meinem Geburtstag zu uns nach Hause einzuladen. Ich holte ihn aus der Cafeteria ab. Seine größte Sorge war, dass er es hinbekommt, rasiert zu sein. Dann wurde ihm ganz bange und er meinte, dass er doch ein Einzelgänger sei und in fremden Wohnungen– da gucken die doch immer so – und wollen alles wissen... Stand dann hilflos mit herabhängenden Armen in unserem Wohnzimmer, wagte sich nicht nach vorn, nicht zurück. Er ging schnell wieder weg – ohne sich gesetzt zu haben. Als ich ihn in der Cafeteria besuche, beteuerte er noch einmal verlegen, dass er doch ein Einzelgänger sei.

Von nun an suche ich ihn immer an seinem Ort auf, wir machen uns dort eine schöne Zeit. Auf seine Art besucht er mich dann aber doch. Er erzählte mir, dass er Licht in unserer Wohnung gesehen hat, dass im Garten die Blumen blühen. Wenn ich jetzt in die Cafeteria kam, hieß es: "Horschti, deine Sozialarbeiterin kommt." Und später: "Horschti, deine Tochter kommt." Das hat ihm offensichtlich gefallen und mir auch. Also haben wir es so stehen lassen. Seit meinen ersten Besuchen in der Cafeteria feiern wir Feste gemeinsam in festlichem Ambiente mit Tafeltuch und gutem Porzellan.

Viele kleine Zwischenbesuche

Am 18. März ist es der Geburtstag, dann Ostern, Advent, Weihnachten. Meine vielen kleinen Zwischenbesuche genießen wir mit Bier, Kaffee und Kuchen. Herr K. bekommt stets sein Bierpack aus dem Aldi. Das ist ein Muss. Nachdem sein Gang schwankend wird und die alten Knochen nicht mehr mitspielen, hat sich der Alte überzeugen lassen, in ein eigenes Zimmer im Johanneshaus zu ziehen, seine "Wohnung". Seit zwei Jahren lebt er nun in den eigenen vier Wänden. In der Cafeteria findet man ihn nicht mehr. Ich besuche ihn jetzt in seiner Wohnung. Herr K. guckt in seiner vielen freien Zeit Fernsehen, liest Revolverblätter, spielt Mund harmonika, pflegt seine Chrysantheme, raucht Pfeife und trinkt Bier... Letzten Sommer meinte er, dass wir ja noch einmal zu seiner alten Platte fahren könnten. Da sollte ich Fotos machen, um meinen Jugendlichen zu zeigen, wie weit es mit einem kommen kann...

Ich holte ihn mit dem Cabriolet ab und wir haben die Platte gefunden. Ein alter Geräteschuppen. Die Matratze war noch immer an die Bretterwand gelehnt, daneben die alte Holzkiste mit diesem und jenem Zubehör. Der Alte ließ es sich nicht nehmen, sich für mich in den Schlafsack zu zwängen. Mir war ganz beklommen zumute und ich wollte nicht fotografieren. Doch der alte Schnauzbart wollte, dass ich Bilder mache. Da habe ich es getan. Inzwischen wissen wir vieles voneinander. Immer wieder erfahre ich etwas. Das Bild verdichtet sich. Neulich zeigte mir Herr K. sein kaputtes Bein. Ich erzähle ihm von der Sorge um meine kranke Mutter und von meinem Erschöpftsein. Er dachte nach und hat mich beraten. Ich weiß, dass der Alte in Colmar in Westpreußen geboren ist, dass seine Eltern kurz nach dem Kriege starben, dass sein Vater Schmied war. Dass seine Brüder in Russland gefallen sind. Seine Schwester Gertrud hat in der Schweiz geheiratet. Ist wohl schon tot. Und immer wieder taucht der Krieg in den Erzählungen auf, die Gefangenschaft in Russland, anfangs in einem Lager in der Ukraine – später bei Dnepropetrowsk.

Seine Art, über die Kriegszeit zu erzählen, verleiht dieser Zeit einen Glanz. Was soll ich mit solchen Schrägheiten machen? Hilflosigkeit. Ich bin wieder an meinen Vater erinnert. Erst vor kurzem habe ich erfahren, dass der Alte erst 1947 aus der Gefangenschaft nach Hause kam. Seine Eltern hatte er 1943 während des Urlaubs zum letzten Mal gesehen. Als ich all das erfahre, kennen wir uns schon 13 Jahre. Die Gespräche werden in letzter Zeit mühsamer. Der Alte hat Hörprobleme. Ich habe meinen neuen Stammplatz im Zimmer gefunden. Es ist der Sessel mit den blauen Kissen. Herr K. sitzt auf seinem Bett. Wir lesen, erzählen, lesen. Er die Jerry Cottons, den Expreß oder Konsalik, ich den Stadtanzeiger oder ein Buch. Manchmal schlafe ich während des Lesens ein. Ich vertraue dem Alten und fühle mich bei ihm in Sicherheit. Wir sind ein eingespieltes Team, wissen, was wir voneinander zu halten haben. Jede Begegnung kann die letzte sein, mit 84 Jahren muss man mit allem rechnen. Das wissen wir beide.

Ein buntes Leben

Und deshalb stoßen wir seit einiger Zeit bei jedem Besuch mit Sekt auf das schöne Leben und unsere Freundschaft an. Herr K. hat ein buntes Leben hinter sich auf Tippeltouren, als Tagelöhner auf Bauernhöfen, als Aushilfe auf dem Schießstand auf dem Jahrmarkt, bei Kurz aufenthalten im Knast – und auf seine Weise ist sein Leben noch immer bunt. Der Alte macht einen zufriedenen Eindruck. Ich stehe staunend vor einem Menschen, der ohne meine vertrauten Sicherheiten zufrieden ist. Als es ihm gesundheitlich nicht gut ging, l eß er keine Gelegenheit aus, mir zu versichern, dass das Krankenhaus für ihn nicht infrage käme, dann würde er sich auf alle Fälle erschießen. Dabei zeigte er mit dem rechten Zeigefinger bedeutungsschwer auf eine Aktentasche, die ständig neben seinem Stuhl in der Cafeteria stand. Dabei hielt er den linken Zeigefinger pistolenmäßig an die Schläfe. Ich habe niemals herausgefunden, ob es diese besagte Pistole wirklich gibt.

Wenn wir zusammen sind, gibt es immer was zu lachen. Lustig haben wir es, wenn ich den Alten fotografiere. Das tue ich seit Jahren. In der ersten Zeit unserer Freundschaft weigerte er sich, fotografiert zu werden. Das dauerte lange. Heute macht er sich ein Spielchen draus, wenn ich mit dem Fotoapparat komme. Im Verlauf der Jahre gibt es immer wieder gute Gelegenheiten, den Alten meinen Freunden und meiner Familie vorzustellen. Als ich neulich mit meinem Bruder bei ihm vorbeischaute und dem Alten erzählte, dass J. Jahre in Russland gelebt hat, begann er vor Freude wild herumzutanzen, er warf die Arme aufgeregt in die Luft und knallte russische Worte heraus.

Liebe Anna, als Du ein Baby warst, nahm ich Dich mit in die Cafeteria. Der Alte sollte Dich sehen. Er saß auf seinem Stammplatz. Guckte auf, als wir kamen. Ich legte Dich in seinen Arm. "Baby gekriegt?..." meinte er. Der Alte schien Profi im Babywiegen zu sein. Das war ein wunderschöner Moment voller Innigkeit. Die Welt schien in diesem Augenblick in Ordnung zu sein. Das ist jetzt neun Jahre her... Immer, wenn ich Fotos von Dir mitbringe, erzählt der Alte darüber, wie er Dich im Arm gehalten hat.

In seiner Wohnung hängen mehrere Fotos von uns an der Wand. Eins, auf dem ich mit Dir im Zoo bin. Und auch das Foto, auf dem ich mit dem Alten vor dem Weihnachtsbaum stehe, wie Vater und Tochter. Das löst immer wieder eine Gefühlswallung in mir aus. Dieses Foto steht auch auf meinem Arbeitstisch. Du erinnerst dich an unseren gemeinsamen Besuch bei Herrn K. Mit uns dreien war die Hütte voll. Der Alte hatte sein geliebtes Holzfällerhemd und die ausgebeulten Jeans an, die am Hintern wild herunterhängen. Auf dem Tisch lag noch die Weihnachtsdecke vom gemeinsamen Kaffeetrinken. Die Topfblume hast Du auch gesehen. Ich hatte dem Alten im letzten Jahr eine kleine Chrysantheme mitgebracht. Seitdem pflegt er seine Blume innig. Es würde mich nicht wundern, wenn sie wieder blühen würde.

Sanfte Sorgfalt

Die sanfte Sorgfalt des böllerigen Schnauzbartes geht mir nahe. Wenn wir nebeneinander stehen und die Blume bewundern, ist mir warm ums Herz und ich weiß, dass unsere Freundschaft ein Geschenk ist. Vor dem Fenster steht ein großer Baum mit wunderbarem Laub und lustigen Stachelfrüchten, Du hast ihn gesehen, liebe Anna. Als ich Herrn K. sagte, dass mir dieser Baum gefällt, brummt er nur: "Nimmt Licht im Sommer weg...". Neulich habe ich einen Blick zu seinem Fenster hochgeworfen, als ich ging. Da stand er und winkte. Manches weiß ich von Herrn K., vieles werde ich nicht mehr erfahren. Manchmal habe ich Angst, dass er krank wird und ich nicht benachrichtigt werde. Oder dass ich ihm nicht zur Seite stehen kann, wenn er stirbt. Vorher wünsche ich mir noch viele gemeinsame Stunden mit Jerry Cotton und den anderen Revolverblättern, dem Expreß, dem Blumentopf, Sekt in feinen Gläsern, dem Kölner Stadtanzeiger und einer Menge Erzählchen.

Liebe Anna, ich bin jetzt müde. Mir fallen noch viele Erlebnisse mit Herrn K. ein, die ich Dir erzählen möchte. Lass uns ein anderes Mal weitermachen.

Deine Omi


Der Artikel stammt aus dem Buch "Arme habt ihr allezeit. Vom Leben obdachloser Menschen in einem wohlhabenden Land", herausgegeben von der Evangelischen Obdachlosenhilfe e.V.

Das Buch ist in der "edition chrismon" erschienen und kann im chrismon shop für 19,90 Euro bestellt werden.