"Wir brauchen noch einen Verhandlungtermin, weil ich vergessen habe, die Zeugen einzuladen." Als Richter Sagebiel am Darmstädter Landgericht diesen Satz sagt, stöhnt der voll besetzte Zuschauerraum kollektiv entrüstet auf. Den Zuschauern reicht es, sie wollen endlich ein Urteil. Dabei ist der Prozess gegen die drei Angeklagten eigentlich gar nicht so langsam: Prozessbeginn war der 16. September, das Urteil wird für den nächsten Termin erwartet, den 11. November. Weniger als zwei Monate liegen dann zwischen Prozessbeginn und Verhandlungsende – beinahe ein Schnellprozess.
Aber es liegt ein ganzes Jahr zwischen dem Tod von Fabian Salar Saremi und dem vorletzten Prozesstag am 30. Oktober, der eigentlich der letzte sein sollte. Ein Jahr, in dem auch die Familie mit ihrer Trauer umgehen musste. Salars vier Jahre ältere Schwester Salome Saremi und Vater Fabian Saremi gründeten mit anderen Bensheimern zusammen den Verein "Fabian Salars Erbe", der sich mit dem Slogan "Mut ist gut" für Zivilcourage und Toleranz einsetzt. "Die Menschen in Bensheim haben mir gezeigt, was Fabian war", sagt der Vater über die Zeit nach dem Tod seines Sohnes: "hilfsbereit und ein guter Mensch." Aber jetzt wollen Vater und Schwester einen Abschluss des Verfahrens, wollen Gerechtigkeit.
Der genaue Tathergang ist immer noch unklar
Es ist für Richter Sagebiel, seine zwei Beisitzer und die zwei Schöffen allerdings schwer, den Tathergang zu rekonstruieren. Klar ist nur: An dem Abend tanzte einer der Angeklagten in der Diskothek "Fantasy" in Bensheim eine junge Frau etwas zu aufdringlich an. Sie und ihr Freund wollten das nicht, es kam zu Handgreiflichkeiten. Der DJ berichtet vor Gericht: "Ich habe nur eine junge Dame schreien hören: Aufhören! Aufhören!" Dann schaltete er die Musik aus und das Licht ein. Die Streithähne wurden rausgeworfen. Was dann auf der Straße vor der Disko passierte und warum Salar Saremi starb, versuchen der Richter und die Beisitzer herauszukriegen. Einfach ist das nicht.
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Die Angeklagten – drei stehen vor Gericht, der vierte ist flüchtig – bestreiten, dass es eine heftige Schlägerei gegeben habe. Seit Ende Mai 2009 sitzen sie in Untersuchungshaft. Während des Prozesses werden sie in Handschellen in den Saal geführt, zu jeder Pause der Verhandlung werden ihnen die Fesseln wieder angelegt. Laut Haftbefehl der Staatsanwaltschaft sollen sie den Tod Salars billigend in Kauf genommen haben, als sie am frühen Morgen des 28. September 2008 auf den in Frankfurt geborenen 29-Jährigen eingeschlagen haben. Einer der drei hat zugegeben, Salar Saremi geschlagen zu haben, aber beschreibt die Auseinandersetzung als "Ohrfeigen".
Krankenakten haben keine Erinnerungslücken
Der Bericht der Gerichtsmedizinerin am vorletzten Prozesstag zeichnet ein anderes Bild. Ein Jahr ist die Schlägerei her, viele der geladenen Zeugen konnten sich an den vorherigen Tagen nicht an alle Details erinnern oder widersprachen sich. Aber Krankenakten haben keine Erinnerungslücken, obwohl auch sie nicht komplett sind. Es ist eine gruselige Liste, die die Gerichtsmedizinerin Barbara Zedler verliest. Salome Saremi muss ihren Vater erst noch überzeugen, sich das nicht noch einmal anzutun – die beiden Angehörigen, die im Prozess als Nebenkläger auftreten, verlassen den Saal. Sie wollen nicht, dass die Wunden Salars ihre eigenen emotionalen Wunden wieder aufreißen.
Sie sind nicht die einzigen. Je tiefer Zedler in die Beschreibung der Verletzungen einsteigt, umso mehr Zuschauer wollen nicht mehr zuhören und verlassen den Zuschauerraum, insbesondere die jungen Frauen, die zur Unterstützung der Familie ins Gericht gekommen sind.
Schwere Verletzungen am ganzen Körper
Es sei "außerordentlich schwierig, einzelne Verletzungen einzelnen Tateinheiten zuzuordnen", sagt die Medizinerin. Sie meint: Salar Saremi war so zugerichtet, dass kaum zu erkennen war, was welche Verletzung verursacht haben könnte. Bei der ersten Notoperation verlor Salar laut den Operationsprotokollen mehr als sechs Liter Blut, fast alles, was er im Körper hatte – die Folge eines Leberrisses. Gebrochene Rippen, ein Nasenbeinbruch, ein gebrochener linker Arm, dazu Spuren stumpfer Gewalt an Stirn, Nasenrücken, Mund und Augenlidern, an Oberarm, Beinen, Kniescheiben: nach "Ohrfeigen" klingt das nicht, was die Ärztin berichtet. Das Taxi, das Salar überrollte, als er am Boden lag, habe die Rippenbrüche und dem Leberriss verursacht, erklärt die Medizinerin, und Salar vermutlich zudem die linke Schulter aufgerissen. Die Gesichtsverletzungen, auch am linken Ohr und der Nasenbeinbruch, seien durch Faustschläge verursacht worden, am Oberschenkel fanden sich auch Spuren von Tritten.
Im Krankenhaus kam es dann zu Komplikationen. Durch den Schockzustand und den anfänglichen Blutverlust, so beschreibt es Gerichtsmedizinerin Zedler, gab es Durchblutungsprobleme im Darm, der Leberriss heilte auch nicht richtig. Es kam zu einer Entzündung im Bauchraum, die sich auf die Lunge ausbreitete, und der durch die diversen Verletzungen geschwächte Körper hatte keine Chance, dagegen anzukämpfen. Salar Saremi starb vier Wochen nach der Tat an einem multiplen Organversagen als Folge der Überrollung durch das Taxi.
Alkohol spielte keine wesentliche Rolle
Die Angeklagten nehmen den Bericht reglos auf. Auch als die Ärztin die maximalen Promille schätzt, die die Angeklagten zur Tatzeit im Blut gehabt haben können, reagieren sie kaum, beantworten aber die Nachfragen bereitwillig, was sie getrunken haben. Gerichtsmedizinerin Zedler stellt fest: "Betrunken waren sie alle nicht." Das deckt sich mit der Aussage der Angeklagten selbst. Allerdings: Der jüngere Angeklagte hatte doch schon einiges getrunken und sei Alkohol nicht gewohnt, das bestätigt auch die Jugendgerichtshilfe. Das könnte der Grund gewesen sein, warum er die junge Frau auf der Tanzfläche so sehr bedrängte, dass Salar Saremi sich genötigt sah, ihr und ihrem Freund beizustehen – so hatte die ganze Sache erst begonnen. "Distanzgemindertes Verhalten" attestierte die Ärztin dem Angeklagten für den Abend, auch auf der Basis von Zeugenaussagen.
Dabei sei es eigentlich "nicht seine Art, sich so zu benehmen wie an dem Abend", berichtet die Jugendgerichtshelferin. Er sei an dem Abend zum ersten Mal mit seinem Vater in der Disko gewesen. Der hatte sich 2001 schon von der Mutter getrennt, danach hätten Vater und Sohn zunächst nur wenig Kontakt gehabt, sagte die Jugendgerichtshelferin vor Gericht. Nach zwei wiederholten Schulklassen und dem qualifizierten Hauptschulabschluss habe der Angeklagte nun einen Ausbildungsplatz, hieß es in dem Bericht, der den jungen Mann als eher unauffällig beschrieb. Ehre spiele für ihn allerdings eine große Rolle, zur Zeit ist er Haussprecher in der Justizvollzugsanstalt, "das macht er auch sehr gut".
Gerichtshilfe empfiehlt Jugendstrafrecht
Das hinderte das Gericht allerdings nicht daran, schon an einem früheren Verhandlungstag den Antrag auf ein psychiatrisches Gutachten für den Angeklagten abzulehnen. In der Begründung sagte Richter Sagebiel: "Die Familie ist so gut integriert, dass eine tradierte Familienstruktur aus der Türkei nicht erkennbar ist. Beide [Vater und Sohn] sprechen besser Deutsch als Türkisch." Eine eingeschränkte Schuldfähigkeit wegen Gruppendruck und kultureller Ehrtradition sei daher nicht erkennbar.
Auch für den zweiten jüngeren Angeklagten zeichnete die Jugendgerichtshilfe ein ähnliches Bild. Beide zeigten noch "keine Ablösetendenzen", lebten noch kein eigenständiges Leben und glichen in ihrer Situation eher Jugendlichen. Für beide der damals 18-jährigen Angeklagten empfiehlt die Jugendgerichtshilfe eine Verurteilung nach Jugendstrafrecht.
Das menschliche Schicksal gerät in den Hintergrund
Ob Richter Sagebiel, die Beisitzer und Schöffen dieser Empfehlung folgen werden, zeigt sich am 11. November. Dann werden die Anwälte der Anklage und Verteidigung ihre Plädoyers halten, das Gericht wird sich zur Beratung zurückziehen und seine Entscheidung verkünden. Entscheidend für das Urteil wird sein, ob die Angeklagten nach Ansicht des Gerichts Salar Saremi tatsächlich vor das Taxi stießen und damit das Überrollen und den Tod des 29-Jährigen in Kauf nahmen.
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Und für das Urteil wird es Zeit. Denn über den Feinheiten und Formalien des Prozesses geht unter, dass im Landgericht Darmstadt über den Tod eines Menschen gesprochen wird, dass ein Leben zu Ende ging, nur weil er nicht stumm daneben stehen wollte. Die Einlassungen der verteidigenden Anwälte, die vielen Detailfragen, das Versäumnis des Richters, die noch zu hörenden Zeugen zu laden: Je mehr und je länger geredet wird, umso mehr tritt das menschliche Schicksal in den Hintergrund. Für die Familie von Salar Saremi ist das eine ganz private Hölle: "Das reißt einem den Magen raus", beschreibt Salome Saremi das Gefühl, noch einmal in den Gerichtssaal kommen zu müssen, um endlich zu hören, welches Urteil die Justiz dann über den Tod ihres Bruders fällen wird.
Hanno Terbuyken ist Redakteur bei evangelisch.de, zuständig für die Ressorts Gesellschaft und Wissen.