Gestatten, Münchhausen! Wenn lügen zur Krankheit wird
Kennen Sie Menschen, denen ständig die unglaublichsten und erschütterndsten Dinge passieren? Dann haben sie es vielleicht mit einem Pseudologen zutun: einem krankhaften Lügner.
05.11.2009
Von Henrik Schmitz

Tina W. (Name geändert) hat mit ihren 22 Jahren schon viel erlebt. Freunden erzählt sie von ihrer überstandenen Krebserkrankung und der seither notwendigen Dialyse in unregelmäßigen Abständen. Sie schwärmt von ihrer Zeit als Barkeeperin in Miami, wo sogar ein von ihr kreierter Cocktail nach ihr benannt wurde. Zurück in Deutschland arbeitete sie als Rettungssanitäterin, eine Vorstufe ihres geplanten Medizinstudiums. Tinas Mutter, amerikanische Psychiaterin, pendelt zwischen ihren beiden Praxen in Washington und einer westfälischen Großstadt hin und her. Der Vater leitet ein gut gehendes Unternehmen, und Tina selbst, so erzählt sie, hat bereits mehrere Millionen Euro geerbt, über die sie ab ihrem 30. Geburtstag verfügen kann.

Nichts von alledem ist wahr. Tina war nie in Miami, die Mutter ist keine Amerikanerin und auch größere Erbschaften sind in Tinas Leben bislang ausgeblieben. Tina ist krank. Der Psychiater Anton Delbrück hat für Menschen wie sie in seiner 1891 erschienenen Habitilationsschrift "Die pathologische Lüge und die psychisch abnormen Schwindler" den Begriff Pseudologen geprägt. Der Krankheit selbst gab er den klangvollen Namen Pseudologia Fantastica (oder: Pseudologia Phantastica).

Lüge und Selbstbetrug

Bei Menschen wie Tina geht das Lügen über das gewöhnliche Maß hinaus. Sie lügen dreister, fantasievoller und konsequenter als andere. Zugleich geht es bei ihnen nur indirekt um das Erreichen eines bestimmten Ziels oder eines kleinen Vorteils in einer Alltagssituation. Pseudologen sind keine reinen Hochstapler, die lügen, etwa um sich zu bereichern.

Oft dreht es sich bei den Pseudologen um erfundene Adels- oder Doktortitel und große Reichtümer. Für seine Habitilationsschrift sammelte Anton Delbrück mehrere Fälle, die sich lesen wie die reinsten Groschenromane. So berichtet er von einem Dienstmädchen, das sich wahlweise als rumänische Prinzessin oder unehelicher Abkömmling der spanischen Königsfamilie ausgab.

Fehlendes Selbstbewusstsein der Pseudologen

Pseudologen seien Menschen, die nach außen hin sicher und selbstbewusst aufträten, im Inneren aber eher anlehnungsbedürftig und leer seien, stellte Delbrück fest. Ihnen fehle es an Selbstwertgefühl. Der Pseudologe steigere sich deshalb in eine Wunschwelt - mit dem vagen Wissen um deren Irrealität. Der Pseudologe spiele seine Rolle sogar dann weiter, wenn er sich damit schade. Schuldgefühle hat der Pseudologe Delbrück zufolge nicht.

Ziel der Pseudologen sei ein "narzisstischer Gewinn", sagt der Berliner Psychiater Hans Stoffels, einer der wenigen Pseudologie-Experten in Deutschland. Er schlüpfe in verschiedene Rollen, von denen er sich Anerkennung und Zuwendung seiner Mitmenschen erhoffe. Gleich sei allen Pseudologen eine ausgeprägte Fantasiebegabung, in vielen Fällen auch verbunden mit überdurchschnittlicher Intelligenz.

Berühmte Pseudologen

So hat Stoffels bei den Schriftstellern Heinrich Heine und Karl May pseudologische Züge ausgemacht. Auch bei Goethe ergäben sich Anzeichen einer Pseudologia Fantastica. Goethe selbst sprach in seinen Erinnerungen "Dichtung und Wahrheit" von seinen "Windbeuteleien und Luftgeschichten". Heine identifizierte sich als 13-Jähriger mit seinem entfernten Großonkel Simon de Geldern, der den Orient bereist hatte. "Mein Leben glich damals einem großen Journal, wo die obere Abeilung die Gegenwart, den Tag mit seinen Tagesberichten und Tagesdebatten, enthielt, während in der unteren Abteilung die poetische Vergangenheit sich in fortlaufenden Nachtträumen wie eine Reihenfolge von Romanfeuilletons fantastisch kundgab", schrieb Heine in seinen Erinnerungen.

Karl May wiederum liebte es in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, als sei er mit seiner Romanfigur Old Shatterhand identisch und seine Romane somit letztlich selbst erlebte Geschichten. May ließ sich sogar einen Bärentöter, ein futuristisches Wild-West-Gewehr, anfertigen und hängte es über seinen Schreibtisch.

In den vergangenen Jahren haben immer wieder Pseudologen für Schlagzeilen gesorgt, die ihre angeblich traumatischen Schicksale bekannt gemacht hatten. In seinem 1995 erschienenen Buch "Bruchstücke" schilderte etwa Binjamin Wilkomirski alias Bruno Doessekker schreckliche Erlebnisse während des Holocausts. Später kam heraus, dass kein Wort wahr war. Ebenso wie bei Misha Defonseca. Die Belgierin hatte in ihrem Roman "Leben mit Wölfen" berichtet, sie sei als Achtjährige auf der Flucht vor den Nationalsozialisten von einem Wolfrudel quasi adoptiert worden und mit den Wölfen quer durch Europa gewandert. Kurz bevor die Verfilmung der angeblichen Autobiografie in die Kinos kam, entpuppte sich die Geschichte als frei erfunden.

Die Amerikanerin Tania Head wiederum berichtete in zahlreichen Fernsehinterviews, sie sei am 11. September 2001 gerade noch aus dem World Trade Center entkommen, bevor die Türme zusammenstürzten. Ihr Verlobter Dave habe das Unglück hingegen nicht überlebt. Head gründete sogar eine Selbsthilfegruppe für die Überlebenden des Anschlags vom 11. September. Später entpuppte sich auch Heads Schicksal als frei erfunden.

Anerkennung durch Opfer-Status

Gerade diese Fälle zeigen, dass die Geschichten der Pseudologen auch einen gesellschaftlichen Wandel dokumentieren. Psychiater Stoffels beobachtet eine verstärkte Sehnsucht der Pseudologen, Opfer traumatischer Erlebnisse zu sein. Auch er hatte einmal eine Patientin, die behauptete "Office-Managerin" gewesen zu sein und am 11. September im World Trade Center gearbeitet zu haben.

Der französische Sozialphilosoph Pascal Bruckner schrieb bereits 1995 von einer "Viktimisierung" der Gesellschaft. Im Opfer-Sein sah er eine „Modeströmung“, von der sich Menschen einen Vorteil erhofften. Aus dem Opfer-Sein ließen sich Ansprüche auf Wiedergutmachung, auf Trost und Zuwendung ableiten.

Genau diese Zuwendung sei es auch, die Pseudologen suchten, sagt Stoffels. Ihnen gemein seien in der Regel kindliche Entbehrungen, die sie nun mit Hilfe der Lügengeschichten kompensierten. Weiterhin diene die Lüge einer seelischen Entlastung mit Situationen, die der Pseudologe anders nicht bewältigen könne. Ein mögliches Beispiel dafür schildert Gretchen Dutschke in ihrer Biografie über ihren Mann Rudi Dutschke. Der Studentenführer habe in Jugendjahren Schwierigkeiten mit seiner Identität als Deutscher gehabt, da die Schande der Nazizeit schwer auf ihm gelastet habe, schreibt sie. "Um sich davon distanzieren zu können, bildete er sich ein, dass er ein Jude sei, den die Dutschkes bei sich versteckt hätten."

Die Lüge als Massenphänomen?

Wie viele Pseudologen es gibt, darüber gibt es keine verlässlichen Zahlen.  Unter anderem deshalb, weil die Pseudologia Fantastica in der internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) nicht einzeln auftaucht. "Das ist unverständlich", sagt Psychiater Stoffels. Die Pseudologia Fantastica zeige ein charakteristisches Muster abnormen Verhaltens - dranghaftes Lügen - und eine charakteristische Störung der Impulskontrolle, da den Pseudologen Schuld- und Schamgefühle fehlten. Somit gehöre die Pseudologia Fantastica auch in die ICD. Harald Freyberger, Professor für Psychiatrie an der Universität Greifswald, sieht hingegen keine Notwendigkeit, die Pseudologia Fantastica als eigenständige Störung in die ICD aufzunehmen. "Die Pseudologia Fantastica ist ein Syndrom, das unter die narzisstische Persönlichkeitsstörung fällt. Diese ist in der ICD aufgeführt", sagt er. So gesehen, sei die Sache nur ein Teil verschiedener Störungen wie etwa des Münchhausen-Syndroms, bei dem Menschen mit dem Ziel ärztlicher Behandlung Krankheiten erfinden oder selbst hervorrufen.

Nicht jeder, der lügt, ist natürlich ein Pseudologe. Selbstwertkrisen kennt beinahe jeder und neigt daher auch mal dazu, sein Leben ein wenig schöner und spannender zu reden, als es wirklich ist. Die Frage ist nur, wie beständig und regelmäßig jemand das Gebot "Du sollst nich lügen" bricht. Psychiater Stoffels geht jedenfalls von einer hohen Dunkelziffer von Pseudologen aus. Dies liege daran, dass die wenigsten Pseudologen jemals den Weg in eine Praxis fänden. Ihnen fehle in der Regel der Leidensdruck, der Voraussetzung für eine Therapie sei. Würden Pseudologen als Lügner enttarnt, brächen sie eben einfach den Kontakt zu Freunden ab und wendeten sich anderen Menschen zu, sagt Stoffels. Den Pseudologen zugute komme auch, dass viele Menschen ihnen ihre Geschichten "nur zu gern" abkauften. "Es schmeichelt uns, Menschen zu kennen, die aufregendes oder schlimmes erlebt haben", sagt Stoffels und gibt zu, zunächst beeindruckt von der Patientin gewesen zu sein, die den 11. September angeblich nur knapp überlebt hatte.

So kann beinahe von einer Ko-Abhängigkeit gesprochen werden. Der Pseudologe lügt, weil ihm die Lüge Anerkennung und Zuwendung sichert. Die Anerkennung strahlt dabei auf das Umfeld des Pseudologen ab, das daher nicht geneigt ist, die Lügengeschichten zu hinterfragen. Die Pseudologia Fantastica setzt immer zweierlei voraus: Den Lügner und den, der, der sich vielleicht bei einem Cocktail, gern belügen lässt und wie bei Tina W. möglicherweise hofft, etwas von dem angeblichen Reichtum abzubekommen.


Henrik Schmitz ist unter @henrikschmitz auf Twitter erreichbar.