Lebensbilder von der Straße: Nicole
In Deutschland leben etwa 250.000 Menschen auf der Straße. Auch Nicole war lange obdachlos und findet nun mühsam einen Weg in ein geregeltes Leben.
04.11.2009
Von Christian Schröder und Wolfgang Kutta

Nicole, geb. 1977 in Bottrop

"Meine Kindheit verlief wie in einem schlechten Märchen. Wechselnde Partner der Mutter, mit uns Kindern konnten die nicht viel anfangen. Alkoholexzesse, Schläge. Mit 15 für zwei Jahre ins Heim, hab da keinen Halt gefunden und bin zurück zur Mutter."

"Trau keinem über dreißig“ ist eine Lebensweisheit, die jeder Teenager kennt. Dreißig markiert die Schwelle zur Spießigkeit. Es ist kurz vor Weihnachten, und Nicole feiert ihren dreißigsten Geburtstag. Sie will nichts so sehr, wie endlich spießig werden.

Nicoles Kindheit verläuft wie in einem schlechten Märchen. Sie wird in Bottrop geboren, hier wächst sie auch auf. Mutter und Vater trennen sich früh. Bis zum sechsten Lebensjahr wohnt sie bei ihrem Vater, dann kommt sie zur Mutter. Fünf Jahre darauf bricht der Kontakt zu ihrem leiblichen Vater ab. Nicoles vier Jahre ältere Schwester und ihr zehn Jahre jüngerer Bruder haben jeweils einen anderen Vater. Ständig kommen neue Stiefväter ins Haus, die mit den Kindern nicht viel anfangen können. Nicoles Kindheit prägen Alkoholexzesse, Schläge und Verwahrlosung.

Ohne Abschluss

Überdies ziehen sie häufig um. In fünf Schuljahren – die dritte Klasse muss sie wiederholen – besucht Nicole vier verschiedene Grundschulen. Die Hauptschule verlässt sie nach der siebten Klasse, hängt wegen der Schulpflicht noch zwei Jahre Berufsschule an und geht trotzdem ohne Abschluss ab. Mit 14 fängt sie an zu kiffen. Ein Jahr darauf wird sie für zwei Jahre in ein Heim geschickt. Wenig später, mit nur 16 Jahren, raucht sie erstmals Heroin. Nach einer Weile findet sie im Heim keinen Halt mehr, verlässt es wieder und zieht zurück zu ihrer Mutter. Nach einem halben Jahr, gerade 18 geworden, verlässt sie das Elternhaus erneut. Sie zieht zu ihrem langjährigen Freund, der wohnt noch bei seiner Mutter. Aus dem besten Freund wird schließlich ihr Ehemann.

Ohne Schulabschluss bekommt Nicole nur Gelegenheitsjobs: Eine Weile trägt sie Zeitungen und Prospekte aus, ein paar Monate arbeitet sie in einer Großwäscherei, gelegentlich putzt sie, zwischendurch bezieht sie Sozialhilfe. Ihre Mutter heiratet wieder, und Nicole arbeitet ein Jahr lang für die Abbruch- und Asbestsanierungsfirma ihres Stiefvaters. Sie kümmert sich um die Büroarbeit und schreibt Rechnungen. Als sei sie in ihrer Kindheit nicht oft genug umgezogen, wechselt sie in vier Jahren mit ihrem Mann öfter den Wohnort als andere Leute in ihrem ganzen Leben: Sie ziehen von Bottrop nach Duisburg-Hochfeld, dann nach Duisburg-Homberg, später nach Wesel und wieder nach Bottrop. Den grauen Alltag verschönern sie sich mit Marihuana, Alkohol und Heroin. Die Beziehung versinkt im Drogensumpf und endet nach acht Jahren. Nicole ist Mitte zwanzig und wieder ohne eigene Wohnung. Sie übernachtet mal hier, mal da oder beim aktuellen Partner. Nach jeder Trennung ist sie wieder obdachlos, ohne Arbeit und abhängig von Sozialhilfe.

Aufnahme ins Methadonprogramm

1998 dann eine Hoffnung: Sie wird ins Methadonprogramm aufgenommen. Zwei Jahre lang scheint der Kampf gegen die Drogen gewonnen. Sie lernt den Zweiradmechaniker Gisi kennen, und nach elf Monaten heiraten sie. Acht Monate später wird sie schwanger und bringt im Mai 2001 einen Sohn zur Welt. Ein zweiter Sohn folgt anderthalb Jahre später. Doch an das ersehnte Familienglück ist nicht zu denken, ihr Ehemann greift immer öfter zur Flasche. Die Kindererziehung überfordert ihn. Ihr Leben wird zur Hölle, und Nicole sucht Zuflucht in ihrer alten Szene. Der Rückfall lässt nicht lange auf sich warten. 2003 trennt sie sich von Gisi, verlässt die gemeinsame Wohnung und ist wieder obdachlos. Die Kinder kommen bei Onkel und Tante in Münster unter. Auf dem Papier bleibt die Ehe noch drei Jahre bestehen, erst im Oktober 2006 wird sie offiziell geschieden.

Zwei Jahre lang übernachtet Nicole erneut mal hier und mal dort. Oft macht sie die Nacht einfach durch. Viel Zeit verbringt sie mit ihrer Clique am Busbahnhof und trinkt. Für ihre Sucht braucht Nicole Geld, viel Geld, das sie sich auch mit kleineren Diebstählen beschafft.

Keine Bewährungsstrafe mehr

Eines Tages will der Richter keine Bewährungsstrafe mehr verhängen. Nicole ist da gerade erst vom Sozialamt mit ihrem Hund in die kommunale Obdachlosensiedlung Borsigweg in Bottrop-Boy eingewiesen worden. Doch die heruntergekommene Zweizimmer-Wohnung ohne Bad und Heizung muss sie jetzt gegen eine kleine Zelle eintauschen. Als sie im Herbst 2005 nach vier Wochen entlassen wird, hat ihre Wohnung keinen Kohleofen mehr. Jemand hat ihn gestohlen. Und der Energieversorger hat ihr wegen Altschulden den Strom abgeklemmt. Doch das Unglück hat etwas Gutes: Sie lernt ihren Nachbarn Mike kennen.

Seit sechs Monaten sind sie jetzt zusammen, und den Ring am Finger hat er ihr geschenkt. Heiraten will sie allerdings nicht noch einmal. Seit dem Gefängnisaufenthalt ist Nicole wieder im Methadonprogramm, diesmal will sie durchhalten, ihre Drogenzeit und den Alkohol endgültig hinter sich lassen. Nicole ist ruhiger und ausgeglichener geworden. Auch ihren dreißigsten Geburtstag will sie nur gemütlich feiern, zusammen mit Mike und zwei guten Freunden.


Der Text stammt aus dem Buch "Lebensbilder von der Straße - Portraits von Menschen in Wohnungsnot", herausgegeben von Christian Schröder und Wolfgang Kutta mit Fotos von Guido Frebel.

Das Buch kann auf der Internetseite der Evangelischen Sozialberatung Bottrop für eine Spende von zwölf Euro zzgl. drei Euro Versand bestellt werden.