Lebensbilder von der Straße: Günther
Günther hat das Leben eines Nomaden geführt.. Als Kind war er im Heim, später zog er mit Schaustellern durch Deutschland. Der 76-Jährige hat einen Traum: Alleinunterhalter sein.
04.11.2009
Von Christian Schröder und Wolfgang Kutta

Günther, geb. 1932 in Essen

"Nachdem mein Vater sich zur Waffen-SS gemeldet hatte, konnte unsere Mutter allein nicht mehr für uns drei Geschwister sorgen. So kam ich mit sechs ins Heim. Dort setzte es ständig Prügel."

Nervös und voller Anspannung sitzt der kleine alte Mann vor seinem Schreibheft. Er will seine Geschichte zu Papier bringen, will ein Buch schreiben. Denn in seinem 76-jährigen Leben ist viel geschehen – auch Schlimmes. Immer wenn er sich daran zurückerinnert, kommen ihm die Tränen und eine unerträgliche innere Unruhe übermannt ihn. Um sich abzulenken, steht er dann auf, spielt einige Töne auf der Orgel, dreht den Regler der Stereoanlage hoch oder schlüpft in ein Clownskostüm aus seiner Zeit beim Zirkus, nur um es sogleich wieder auszuziehen.

Kurz vor der Machtergreifung der Nazis wird Günther in der Ruhrgebietsstadt Essen geboren. Sein Vater Paul ist Hilfsarbeiter, seine Mutter Hemdennäherin. Nachdem der Vater sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet hat, schafft die Mutter es nicht mehr, für ihre drei Kinder zu sorgen, und 1938 steckt das Jugendamt die zwei Jungen und das Mädchen in unterschiedliche Kinderheime. Den sechsjährigen Günther verschlägt es ins rheinlandpfälzische Neuwied, knapp 150 Kilometer weg von zuhause. Dort führen Nonnen mit langen, schwarzen Kutten und ein Pastor – alle ohne erzieherische Ausbildung – ein strenges Regiment. Die Schwestern nehmen Günther Kleidung und private Dinge ab und stecken ihn in Anstaltskleidung. 500 Kinder leben im Heim, jeden Morgen müssen sie vor dem Pastor strammstehen. Für einen losen Knopf an der Jacke oder Dreck unter den Fingernägeln setzt es Prügel. Im Schulunterricht beantworten die Lehrerinnen Fehlverhalten durch Schläge mit dem Stock.

Zuflucht im Keller

Bei Fliegeralarm suchen die Kinder im Keller Zuflucht, mit jeder hörbaren Detonation in der Nähe wächst ihre Furcht. Eines Tages suchen drei Gestapo-Männer den Zwölfjährigen auf. Der Junge fürchtet um sein Leben, denn die anderen Kinder haben gesagt, dass er mit seinem polnischen Nachnamen auf der Hut sein müsse. Die Uniformierten wollen wissen, wo sich sein Vater befindet. Der hat nach sieben Jahren bei der Waffen-SS Fahnenflucht begangen, ihm droht die Todesstrafe. Jahre später erfährt Günther, dass sein Vater sich in den letzen Kriegsmonaten erfolgreich verstecken konnte und seine Mutter durch eine Fliegergranate schwer verletzt wurde, aber überlebte.

1947 vermittelt der Pastor den 14-Jährigen als Knecht zu einem Bauern nach Montabaur im Westerwald. Doch zuerst muss Günther wieder zu Kräften kommen, denn er ist abgemagert und schwer krank. Er hat die Ruhr und verträgt die Bauernkost nicht. Langsam päppelt ihn die Bäuerin wieder auf. Das Leben auf dem Hof ist anstrengend: Der Junge muss bei der Ernte helfen, Tiere füttern, Kartoffeln auflesen, Heu stapeln. Dafür behandeln ihn die Bauern fast wie ihren eigenen Sohn. Eines Tages, als Günther zum ersten Mal den Traktor fährt, gerät er bergab ins Schlingern. Das Fahrzeug überschlägt sich und bleibt mit Totalschaden liegen. Günther ist unverletzt, hat aber Todesangst vor der Strafe des Bauern. Er packt seine Sachen und verschwindet.

Zeche Helene

Nach 20 Jahren kehrt der 27-Jährige voller Heimweh 1959 zurück nach Essen. Seine Eltern sind inzwischen geschieden, und Günther traut sich nicht, den Kontakt herzustellen. Er wohnt bei seiner Tante und arbeitet zunächst in der Kokerei auf Zeche Helene, kratzt Asche und verlädt Koks. Später bedient er Betonmischer und Aufzug auf einer Baustelle in Hagen. Am Porscheplatz in Essen entdeckt er den Aushang eines Schaustellers: "Junger Mann zum Mitreisen gesucht". Günther meldet sich und arbeitet des Öfteren auf den Jahrmärkten in der Umgebung. Meist aber sortiert er auf dem Hof eines Schrotthändlers Altmetalle. Die Tante setzt ihn nach einiger Zeit vor die Tür, weil er zu wenig Geld zur Haushaltskasse beisteuert. Günther kommt in der Laube einer Schrebergartensiedlung unter und erledigt im Gegenzug Gartenarbeiten in der Kolonie.

Mitte der sechziger Jahre lernt er Vera auf der Kirmes kennen, die in einem Kinderheim in Wuppertal lebt. Immer wenn sie ausbüchst – und das macht sie häufig –, findet sie Unterschlupf in Günthers Laube. Das frisch verliebte Paar verbringt aufregende Nächte in der Holzhütte. Irgendwann informiert ein Nachbar die Polizei, denn Vera ist erst 19 und damit nicht volljährig. Die Ausreißerin muss zurück ins Heim und Günther die Laube verlassen. Was der 34-Jährige nicht weiß: Vera erwartet ein Kind von ihm. Davon erfährt er erst, als sie ihm kurz nach der Entbindung schreibt. Günther macht sich gleich am nächsten Tag auf nach Wuppertal, wo er erfährt, dass Vera wieder bei ihrer Mutter lebt. Dort wird er beschimpft, weil er eine Minderjährige geschwängert hat. Vera sieht er nur noch ein einziges Mal – beim Unterhaltsprozess, sein Kind wird er niemals zu Gesicht bekommen.

Obdachloseneinrichtung in Essen

Günther steigt jetzt ganz ins Kirmesgeschäft ein und zieht die nächsten 15 Jahre mit den Schaustellern durch die Lande. In der Sommerzeit lebt und arbeitet er auf Jahrmärkten, die Winterpause verbringt er zumeist in stationären Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe. Als 1982 das von ihm betreute Fahrgerät kaputt geht, beendet Günther seinen Job auf dem Rummel.

Schnell findet er eine neue Anstellung, Kost und Unterkunft inklusive, und zieht mit einem Zirkus durch Deutschland. Er füttert die Tiere, heizt die Öfen der Artisten an und hilft beim Auf- und Abbau der Zelte. Nach zweieinhalb Jahren hört er auf, lebt fortan bei Freunden und Bekannten und für einige Jahre auch in einer heruntergekommenen Obdachloseneinrichtung in Essen.

Während er in der zweiten Hälfte der Achtziger einige Jahre als Pflegehelfer im Krankenhaus arbeitet, wird er in der ersten Hälfte der neunziger Jahre Hilfsarbeiter im Lager von Karstadt in Essen. Dort sammelt, zerlegt und presst er die Verpackungspappen, bis ihn ein Arbeitskollege fragt, ob er nicht beim Umbau eines Hauses in Bottrop helfen wolle. Günther arbeitet emsig auf der Baustelle und im Garten. Im Keller des Hauses schlägt er für eine Weile sein Quartier auf, bis ihm sein Auftraggeber eine Souterrainwohnung in der Nachbarschaft vermittelt. Doch weil das Geld vom Amt nicht reicht, macht er Strom- und Mietschulden und nimmt die Hilfe der Beratungsstelle für Menschen in Wohnungsnot in Anspruch. 1997 ist der Umbau des Hauses abgeschlossen und Günther hat das Rentenalter erreicht.

Unbarmherzige Jugendjahre

2005 stirbt sein Vater in hohem Alter. Die Mutter ist schon lange tot, und seine Geschwister hat Günther seit 60 Jahren nicht mehr gesehen, obwohl sie noch immer in der Nachbarstadt Essen wohnen.

Das Trauma seiner unbarmherzigen Jugendjahre im Heim hat Günther bis heute nicht überwunden. Seine Lebensgeschichte hat er immer noch nicht zu Papier gebracht, das Schreibheft liegt seit vielen Jahren im Schrank. Nicht ein Wort hat er in all der Zeit geschrieben. Günther hat einen großen Traum: Er will Alleinunterhalter werden – in Festzelten, auf Pfarrfesten und in Diskotheken.


Der Text stammt aus dem Buch "Lebensbilder von der Straße - Portraits von Menschen in Wohnungsnot", herausgegeben von Christian Schröder und Wolfgang Kutta mit Fotos von Guido Frebel.

Das Buch kann auf der Internetseite der Evangelischen Sozialberatung Bottrop für eine Spende von zwölf Euro zzgl. drei Euro Versand bestellt werden.