Mexiko: Wo Lebende und Tote zusammen Fiesta feiern
Kracher, bemalte Zucker-Totenschädel, Speis und Trank am Familiengrab: In Mexiko läuft der "día de muertos", der "Tag der Toten", ganz anders ab. Unsere Autorin, selbst Mexikanerin, erzählt von ihren Erfahrungen, ihren Schwierigkeiten als Protestantin mit dieser Art des Totengedenkens - und wie sie schließlich dank einer koptischen Mumie ihren Frieden damit machte.
01.11.2009
Von Anabel Cantú Flores Reimann

Bunt, laut und lecker wird in diesen Tagen in Mexiko gefeiert. An einem kalten, grauen Novembertag träume ich in Deutschland von einem Stück pan de muerto (Totenbrot) aus meiner Kindheit in Mexiko-Stadt: Hoch aufgegangener Hefeteig, wie eine kleine Pyramide, eine Art sehr frischer Pannetonne, und oben mit aus Zucker bestreut, darauf sind kleine aus Teig geformte Knochen.Dazu trinkt man heißen Kakao oder atole (ein Maismehlgetränk) mit Vanille- oder Erdbeergeschmack. Außerdem werden kleine Zuckerschädel mit Namen von Freunden - bunt, lustig und fantasievoll angemalt - an Kinder, Bekannte und Freunde verschenkt. Wahrscheinlich haben, damals wie heute, unsere so personalisierten Schädel die gierige Angriffe unserer Zunge nicht überlebt und sind im Gaumen verschwunden.

Lieblingsspeisen der Toten

In den Dörfern im Zentrum Mexikos, wo der Katholizismus am stärksten ist, wird noch ausgiebiger gefeiert. Altäre, die eine Mischung barocker und vorkolonialer Stilrichtungen aufweisen, werden liebevoll mit Postkarten der santitos (der örtlichen Heiligen) und virgencitas (der Jungfrau Maria), mit Zuckerschädeln, mit Obst, mit Gemüse, mit Fotos und mit Erinnerungsstücke der Toten dekoriert und mit der orangefarbenen Blume Cempasúchitl - die schon von den Indios so genannt wurde - geschmückt.

Dazu werden cohetes (Kracher und Knallkörper) geknallt und laute Fiestas auf den Friedhöfen veranstaltet: Die Familien (besonders aus der Unterschicht und aus der indigenen Bevölkerung) bereiten die Lieblingsspeisen ihrer Toten zu und gehen zu den Gräbern. Dazu nehmen sie ausreichend Tequila, Mezcal oder Bier mit und trinken, essen und feiern bis in die Morgenstunden.

In den Feierlichkeiten zum "día de muertos" am 1./2. November in Mexiko haben sich verschiedene indianische Bräuche und Weltanschauungen mit der Religion der spanischen Eroberer verbunden. Die Schädel waren in vorspanischer Zeit ein Symbol des Menschenopfers. Um den Fortbestand der Welt zu sichern, mussten die Götter mit "Nahrung" - eben Menschenopfern - versorgt werden.

Zuckerschädel als Symbol

Seit der Eroberung sind die Zuckerschädel und das Essen für los muertitos ("die kleine Toten") ein Symbol dafür, dass der Fortbestand der Familie durch ihre Kinder und die Verwandtschaft weiter geht. Heute treffen sich einmal im Jahr die Lebenden und die Toten einer Familie zu einer Fiesta. Im Rahmen des christlichen Feiertags wird der Toten gedacht, der Schmerz über den Abschied von ihnen wird mit Alkohol gelindert, und es wird für die Gegenwart und Zukunft der Familie Gottes Segen durch die Ortsheiligen und die Jungfrau erbeten.

Der mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes hat die verwirrende Symbolik der Altäre aufgegriffen, indem er schrieb, dass niemand genau wisse, wer genau auf den Altären in Puebla, Tlaxcala und Oaxaca geehrt werde. Der Legende nach hatte sich der spanische Eroberer Cortés die Maske des aztekischen Gottes Quetzalcóatls aufgesetzt. Einiges spricht aber auch für eine andere Interpretation: Eine Maske von Jesus Christus wurde einem indigenem Gott aufgesetzt. Die Wahrheit liegt wohl zwischen beiden Interpretationen. Im Gegensatz zu den Göttern, die menschliche Opfer brauchten, seien die Indios nun von einem Gott fasziniert, der sich für die "Ehre der Menschheit" selbst geopfert hatte.

Dieser Synkretismus, diese Vermischung hat sich auch in Stein verwirklicht: In der Krypta unter der Kathedrale von Mexiko-Stadt ist der Sarg des ersten spanischen Erzbischofs in Nueva España (wie man Mexiko damals genannt hat) besichtigen. Auf dem Deckel des Sarkophags ist, wie in Europa üblich, ein Relief des Erzbischofs gemeißelt; der untere Teil besteht aus dem vulkanischen Gestein eines wichtigen Azteken-Tempels. Auf diesem Teil des Sarkophages sieht man bei genauem Hinsehen die Schädel und Totenköpfe aus der indigenen Tradition. Man sieht: Die Neue Welt wurde durch und durch erobert - in politischer, kultureller und religiöser Hinsicht.

Protestanten bleiben außen vor

Ich selbst komme aus der kleinen protestantischen Minderheit in Mexiko. Weil ich in einer religiösen Minderheit aufgewachsen bin, habe ich oft die kulturellen Spannungen erlebt. Rigider Protestantismus traf auf synkretistischen Katholizismus. Diese Spannung wurde jedes Jahr stärker, weil wir Protestanten uns katholischen Feiertagen verweigerten. Allerheiligen lehnten wir ab, denn wir glauben an der Auferstehung der Toten und verkehren nicht mit ihnen, ebenso den Tag der Jungfrau Maria, denn wir glauben nicht, dass die Virgen de Guadalupe Muttergottes ist.

Ebenso lehnten wir die Feste zu Ehren anderer Heiliger ab und feierten auch nicht die traditionellen Posadas (die inszinierte Herbergssuche von Joseph und Maria). Dadurch gerieten wir in Verdacht, nicht "richtige Mexikaner" zu sein. Diese Spannungen mussten wir jedes Jahr ausblenden, wenn wir den katholischen Teil unserer Familie in Chihuahua besuchten. Wir gingen nicht zum Grab unserer Großmutter, weil sie unserer Überzeugung nach nicht da ist. Wir wurden mit dem Vorwurf konfrontiert, zu einer Sekte zu gehören.

Ich hatte schon als Kind gehört, dass man in dieser Welt sei, aber nicht aus dieser Welt käme, und dass unsere Heimat letztlich im Himmel wäre. Diese - von heute aus gesehen gefährliche - unpolitische Haltung hatte damals auch andere Gründe: Mexiko wurde 70 Jahre lang von der gleichen Partei regiert, die gerne nationalistische Parolen mit dem Katholizismus zusammenbrachte. Das drückte sich in Parolen aus wie: "Die Jungfrau von Guadalupe, Mutter aller Mexikaner", oder "Dies ist ein römisches, katholisches Haus und wir wollen keine protestantische Propaganda". Per Gesetz wurde auch festgelegt, dass kirchlicher - in der Regel aber protestantischer – Grundbesitz jederzeit enteignet werden konnte, so dass man sich fatalistisch aus der Politik zurückzog, um in Ruhe die Gottesdienste feiern zu können.

Koptische Mumie bringt theologischen Frieden

Vor fast 15 Jahren habe ich schließlich in einem fernen und ungewöhnlichen Ort meinen theologischen Frieden mit Allerheiligen schließen können. In einem Museum im ägyptischen Alexandria entdeckte ich zwischen Statuen von Osiris und Bildern von Amon eine Mumie aus dem ersten Jahrhundert nach Christus. Ein kleines rotes Kreuz befand sich auf den weißen Bandagen, mit denen die Mumie umwickelt war.

Irgendwo hatte ich gelesen, dass die erste koptische Gemeinden ähnliche Spannungen hatten zwischen ihrem "alten" Glauben an das Leben nach dem Tod - so wie er sich durch die Einbalsamierung als Mumien ausdrückte - und dem neuen Glauben an Jesus Christus und die Auferstehung. Die dogmatischen Grenzen waren nicht klar und befestigt. Wie theologisch verwirrend wohl damals für die ersten koptischen Christen alles gewesen sein muss.

Diese "christliche Mumie" hat für mich alle kulturellen und religiösen Konflikte meiner Kindheit so relativiert, dass ich mich innerlich freier fühlte, die religiösen und synkretistischen Spannungen meiner Kultur in meiner Biographie zu integriere - ohne Gefühle der Bedrohung oder sogar der Rechtfertigung. Theoretisch und theologisch weiß man selbstverständlich, dass das Christentum nicht in einem kultureller Vakuum entstanden ist, oder dass die lange Geschichte der Missionierung nicht allein schwarz oder weiß gemalt werden kann - trotzdem waren die religiöse Konflikte meiner Kindheit sehr prägend gewesen, bis ins Erwachsenenalter hinein..

Endlich zu Hause angekommen

Vor zwei Jahren, während unseres Sommerurlaubs im Norden Mexikos, starb ein Großonkel in hohem Alter. Natürlich waren die Scheidung seiner Ehe, die Verletzungen einiger seiner Kinder und Streitereien ums Erbe Diskussionsstoff für die ganze große Familie. Die Beerdigung war für mich aber auch der Anlass, viele Onkel, Tanten, Kusinen, Cousins, Neffen und Nichten zum ersten Mal seit 20 oder 30 Jahren wieder zu sehen. Der katholische Trauergottesdienst war zu meiner Überraschung sehr auf Christus hin ausgerichtet und hoffnungsfroh. Es wurden Tränen vergossen, die Kinder des Verstorbenen hielten Reden, und nach dem obligatorischen Abschied am offenen Sarg - für uns Protestanten eigentlich ein Tabu - begann eine Mariachi-Band, mexikanische Country-Musik und die Lieblingslieder des Verstorbenen zu spielen.

Die Atmosphäre war gelöst und feierlich und die Großfamilie entdeckte sich neu zwischen Küssen und glücklichen Wiedererkennungsszenen: "Ich bin die älteste Tochter von Chabelita, die drittälteste Tochter von Margarita, die in Mexiko-Stadt mit ihrem Mann Josué lebt!" -"Ah! Ich hatte dich als Baby zuletzt gesehen ..." Auf diese Weise erwiesen wir alle respektvoll und doch fröhlich dem verstorben Familienpatriarch um offenen Sarg in der Friedhofskapelle die letzte Ehre - und feierten gleichzeitig eine Fiesta. Danach wurde in verschiedenen Häusern mit Tortillas, Chorizo, Mariscos, barbacoa und anderen mexikanischen Leckereien ordentlich gegessen. Ich war glücklich und endlich zu Hause angekommen.


Anabel Cantú Flores Reimann ist in Mexiko aufgewachsen. Heute lebt sie in Deutschland und ist mit einem Deutschen verheiratet.