"Wir erwarten, dass sich Niebel zu Armutsbekämpfung bekennt"
Die Hilfswerke fordern vom neuen Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) ein klares Bekenntnis zur Armutsbekämpfung als zentralem Ziel seiner Politik. Zugleich müsse er die Sorge zerstreuen, dass das Entwicklungsministerium außenpolitischen oder Wirtschaftsinteressen folge, sagt Claudia Warning (46). Die 46-jährige Geographin vertritt als Vorsitzende des Verbands VENRO 118 private und kirchliche Entwicklungsorganisationen in Deutschland und gehört zudem dem Vorstand des Evangelischen Entwicklungsdienstes an.
01.11.2009
Die Fragen stellte Elvira Treffinger

Frage: Frau Warning, als Vorsitzende des Verbands VENRO vertreten sie 118 private und kirchliche Entwicklungsorganisationen in Deutschland. Wie gut haben Sie die Überraschung verdaut, dass der bisherige FDP-Generalsekretär Dirk Niebel neuer Entwicklungsminister ist?

Claudia Warning: Ich kenne Herrn Niebel nicht. Insofern kann ich mir kein Urteil über seine Person oder sein künftiges Wirken erlauben. Wir sind gespannt, ihn kennenzulernen und haben schon um einen Termin mit ihm gebeten. Auf jeden Fall möchten wir ihn für den 14. Dezember nach Bonn einladen, sich den VENRO-Mitgliedern vorzustellen und mit uns zu diskutieren.

Koalitionsvertrag ruft Sorgen wach

Frage: Bald ist Weihnachten, haben Sie schon einen Wunschzettel bei Herrn Niebel abgegeben?

Warning: Wunschzettel haben wir immer, aber noch nicht abgegeben. Am Beginn von Niebels Amtszeit steht ganz oben die Erwartung, dass der Minister sich klar und deutlich zur Armutsbekämpfung als zentralem Ziel der deutschen Entwicklungspolitik bekennt. Außerdem sollte er ein paar Sorgen zerstreuen, die der Koalitionsvertrag in uns wachruft.

Frage:  Worum geht es da?

Warning: Es sind im Wesentlichen zwei Befürchtungen: Erstens inwieweit wird das Entwicklungsministerium nach außenpolitischen Logiken laufen? Das kommt aus der Diskussion vor der Wahl, als die FDP die Eingliederung des Entwicklungsministeriums ins Auswärtige Amt forderte. Die zweite Sorge ist: Wird die Entwicklungszusammenarbeit als Instrument für die Förderung der Außenwirtschaft gesehen? Im Koalitionsvertrag heißt es unter anderem "Entwicklungspolitische Entscheidungen müssen die Interessen der deutschen Wirtschaft, insbesondere des Mittelstands, angemessen berücksichtigen."

Frage:  Was heißt das?

Warning: Die FDP wird sicher sagen, das ist eine Frage der Abstimmung verschiedener Politikfelder. Natürlich haben wir nichts dagegen, dass unsere Außenwirtschaft floriert. Wenn das aber zur Leitmaxime für entwicklungspolitisches Handeln wird, kann das nicht in unserem Sinn sein. Da stellt sich die Frage: Vergibt man demnächst Entwicklungshilfe unter dem Gesichtspunkt, wo deutsche Firmen Aufträge ergattern können? Oder bleibt es bei freien Ausschreibungen, ohne Einflussnahme auf die Vergabe? Auch in der Vergangenheit hatten wir etwa beim U-Bahn-Bau in Asien Streit darüber.

Abwicklungsminister passt nicht zu profiliertem Politiker

Frage: Herr Niebel hat sich beim Amtsantritt vor seinen Mitarbeitern zur Eigenständigkeit des Ministeriums und zur Armutsbekämpfung bekannt. Ist eine Ihrer Sorgen damit nicht schon ausgeräumt?

Warning: Nein, aber ich bin froh, das zu hören. Jetzt wollen wir sehen, wie er das umsetzt, dass er ein eigenständiges Ministerium mit einer klaren Zielsetzung führt. Auch vieles im Koalitionsvertrag lesen wir gerne: Die Förderung von Bildung, Gesundheit, ländlicher Entwicklung und guter Regierungsführung. Aber es gibt Aussagen, die in verschiedene Richtungen weisen.

Frage: Könnte eine Steuersenkung, die die FDP fordert, zu Lasten der Entwicklungszusammenarbeit gehen?

Warning: Wir können es auch anders sehen. An einen FDP-Politiker an der Spitze des Entwicklungsministeriums kann man die Hoffnung knüpfen, dass die Partei auch daran interessiert ist, ihre eigenen Ministerien zu stärken und Kürzungen nicht mitzumachen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein profilierter Politiker wie Herr Niebel es hinnehmen kann, dass er als Abwicklungsminister hingestellt wird. Dazu kann er sich politisch eigentlich nicht hergeben.

Frage: Muss man dennoch das Ziel, die Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen, jetzt endgültig in den Wind schreiben?

Warning: Da haben wir Sorge. Man hört aus der FDP, dass sie auf keinen Fall die 0,51-Prozent-Marke einhalten werden, die nach EU-Stufenplan für nächstes Jahr versprochen und vorgesehen ist. Das würde mindestens eine Milliarde Euro mehr bedeuten. Gerade jetzt brauchen die Armen unsere Solidarität. Es muss also ein Schritt in diese Richtung getan werden. In der Vergangenheit haben wir deutliche Zuwächse gehabt, die aber unter den Versprechungen blieben. Auch in Zukunft müsste das Bemühen erkennbar sein.

Zivilgesellschaftliche Institutionen stärken

Frage: Was bedeutet ein FDP-Minister für die kirchlichen und privaten Entwicklungsorganisationen?

Warning: Glaubt man dem Koalitionsvertrag, sollen wir als Nichtregierungsorganisationen, Kirchen und Stiftungen gestärkt werden. Ich halte für glaubwürdig, dass eine liberale Partei für die Stärkung der Zivilgesellschaft ist. Das heißt zweierlei: Zuerst Spielräume lassen und gewähren für Engagement hier und - ganz wichtig - im Süden der Welt. Zunehmend schränken Regierungen über Gesetze, Maulkorb-Erlasse und Drohungen den demokratischen Raum ein. Jüngste Beispiele sind Aserbaidschan und Äthiopien. Die Bundesregierung muss in solchen Fällen auch in Zukunft weiter heftig protestieren.

Frage: Die Hilfsorganisationen bekommen auch Geld vom Entwicklungsministerium.

Warning: In den vergangenen Jahren erhielten die kirchlichen und privaten Träger von Entwicklungshilfe höhere Zuwendungen, die wir gerne angenommen haben. Beim Evangelischen Entwicklungsdienst, dessen Vorstand ich angehöre, erleben wir, dass unsere Partnerorganisationen in Afrika, Asien und Lateinamerika immer qualifizierter werden und mehr und mehr Anträge stellen. Wir brauchen Stetigkeit beim Wachstum. Bei privaten Trägern war die Steigerung gering. Sie könnten noch einen deutlich größeren Sprung verkraften. Sowohl die großen Hilfswerke als auch die vielen kleinen Initiativen.

"Wächterrolle ist nicht bedroht"

Frage: Wird ein liberaler Entwicklungsminister also das Verhältnis von staatlicher und nichtstaatlicher Entwicklungszusammenarbeit neu justieren?

Warning: Ja, darauf hoffen wir. Allerdings darf sich nicht der Staat zurückziehen, um den privaten und kirchlichen Werken das Feld zu überlassen. Das wäre ja ein Nullsummenspiel. Die FDP hat uns gesagt, sie wolle Zuwächse beim Entwicklungsetat, von denen dann mehr die nichtstaatlichen Organisationen profitieren sollten.

Frage: Wie gut können die nichtstaatlichen Organisationen ihre Wächterrolle gegenüber dem Entwicklungsministerium einnehmen, wenn sie von ihm Geld bekommen?

Warning: Zurzeit haben die 118 VENRO-Organisationen einen Jahresumsatz von etwa einer Milliarde Euro. Davon kommen 250 Millionen aus dem Entwicklungsministerium. Das heißt 750 Millionen erbringen sie selber, vor allem aus Spenden, Stiftungen und Kirchensteuern. Die Abhängigkeit vom Staat ist bei durchschnittlich 25 Prozent staatlicher Mittel nicht sehr groß. Unsere Wächterrolle ist also nicht bedroht.

Frage:  Ihre Botschaft an Herrn Niebel?

Warning: Ich glaube, dass wir weiterhin ein konstruktiv-kritisches Gegenüber sein können, wie wir das auch in der Vergangenheit waren, unabhängig davon, welche Führung oder politische Couleur das Entwicklungsministerium hat. Wir wünschen uns weiter viel Dialog. Wir haben einiges an Erfahrung zu bieten.
 

epd