Nicht von ungefähr ist mit dieser Entdeckung Luthers der Aufbruch in eine neue Zeit markiert. Gerechtfertigt zu sein aus Glauben und Gnade ist eine revolutionäre Einsicht. Zu Luthers Zeiten markierte es den Wendepunkt zwischen Mittelalter und Neuzeit.
"Allein aus Gnade" als Wendewort des eigenen Lebens
Es kann aber auch zu einem Wendewort für jede einzelne Biografie werden. "Allein aus Gnade" heißt im global-elektronischen Zeitalter: dass wir unser Leben nicht selber mit Sinn füllen können. Mit keiner Karriereplanung, keinem Kontostand, keiner Publikationsliste oder einer langen Liste guter Taten und wie unsere stolzen und eitlen Vorhaben alle heißen, können wir Gott beeindrucken. Gott nimmt uns an, so wie wir sind, ohne Eignungstest und Bewerbungsgespräch.
[linkbox:nid=www.reformationstag.de;title=Infos der Evangelischen Kirche und Veranstaltungshinweise]
Niemand soll daraus den falschen Schluss ziehen, dass Christenmenschen nicht gerufen sind Gutes zu tun. Oder wie Luther es sagt: "Folgt die Liebe nicht, so ist der Glaube gewisslich nicht da." Gottes Annahme kann ich mir aber nicht mit beeindruckenden Gut-Haben-Bilanzen oder Ablasszetteln erkaufen. Wenn wir vor seinem Richterstuhl stehen und unser Leben aufgetischt wird, dann retten uns keine Hochglanzbroschüren oder Sammelbände protestantischen Ehrgeizes.
Dennoch dürfen wir glauben, dass wir in diesem Moment nicht alleingelassen sind. Gott hat seinen Sohn Jesus Christus zu den Menschen geschickt. Er sitzt nun zur Rechten Gottes und tritt für uns ein. Und Gott schenkt uns seine wohlwollende Annahme, seine Gnade.
Annahme durch Gott und Umkehr gehören zusammen
Doch Luther erkennt nicht nur, das Gott uns seine gnädige Annahme schenkt, sondern er erinnert uns mit seiner ersten der 95 These auch daran, dass Gnade und Buße, Annahme und Umkehr zusammen gehören: "Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht 'Tut Buße' usw. (Matth. 4,17), hat er gewollt, daß das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll."
Luthers Leben nahm durch diese Erkenntnis und diesen Glauben eine unerwartete wie radikale Wendung. So kann er mutig in der brandgefährlichen Situation auf dem Reichstag zu Worms vor Kaiser und päpstlichen Legaten fest im Glauben den gnädigen Gott bezeugen. So wie Luther mit dieser befreienden Botschaft vom gnädigen Gott nicht in seiner Studierstube bleiben konnte, sondern auszog seine Kirche zu erneuern, so können wir uns es damit nicht in der protestantischen Kirchenbank gemütlich machen. Weil Gottes Gnadengeschenk mit dem Aufruf zur Umkehr verbunden ist, hat dies erhebliche Auswirkungen auf unseren Lebensstil, auf unsere Lebenseinstellung. Wir sind aufgerufen, auszuziehen und unsere Kirche und (globale) Gesellschaft zu erneuern.
Neue und gelingende Ideen, wie wir Glauben weitertragen können
"Kirche im Aufbruch" stand auf den Fahnen, die kürzlich am Eingang zur Zukunftswerkstatt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Kassel wehten. Drinnen bauten 100 Projekte und Initiativen, Kirchgemeinden und Jugendgruppen eine "Galerie guter Praxis" auf, um ihre Aufbrüchen und Erneuerungen weiterzusagen. In unserer Kirche gibt es noch viel mehr neue und gelingende Ideen, wie wir unseren Glauben weitersagen und weitertragen können.
[linkbox:nid=2881,2774,2502,2094;title=Mehr]
Davon dürfen wir ruhig erzählen, gerade auch der Nachbargemeinde. 2007 wurde der protestantische Reformprozess (wieder einmal) in Wittenberg angestoßen. Die Entwicklungen der kirchlichen Finanzen und der Mitgliederzahlen gaben den Anstoß. Auch wenn man zunächst die geistlose Managersprache zu Recht kritisierte, so ist doch in den vergangenen zwei Jahren von vielen Aufbrüchen vor Ort in unseren Kirchengemeinden und kirchlichen Einrichtungen zu berichten.
Der diesjährige Reformationstag erinnert uns besonders daran, dass wir von Gott zur Freiheit berufen sind (1. Kor 7,27). Das gilt heute wie im Herbst vor 20 Jahren. Wir öffneten die Türen der Kirchen (nicht erst 1989) und luden ein zu Gebeten für Erneuerung. Wir mussten Angst überwinden um öffentlich tiefgreifende Reformen einfordern. Diese Herbstreformation 1989 hatte im konziliaren Prozess ihre Studierstube und ihren Thesenanschlag. Viele mutige Reformatoren waren damals bei Demonstrationen und an runden Tischen, bei der Auflösung der Stasi und in den neugewählten Parlamenten aktiv. Dieser Aufbruch in die Freiheit soll gefeiert werden.
Mündiges Christsein braucht Bildung
Auch die Lutherdekade, die den Weg zum Reformationsjubiläum 2017 gestaltet, will Aufbrüche initiieren und Erneuerung anstoßen. Im kommenden Jahr gibt uns der 450. Todestag von Philipp Melanchthon am 19. April 2010 das Thema vor: Reformation und Bildung. Die Reformatoren und allen voran Philipp Melanchthon, den die Zeitgenossen bald "praeceptor germaniae" (Lehrer Deutschlands) nannten, erkannten, dass ein mündiger Christ ein gebildeter Christ sein muss. In den protestantischen Gebieten wurden eifrig Schulen für Jugend und Mädchen gegründet.
Gerechte Bildungschancen für alle Kinder ist der Aufruf für unsere Zeit. Egal ob Migranten - oder Einzelkind, ob mit Behinderungen oder hochbegabt – alle Kinder sollen ihre Talente bestmöglich entwickeln können. Dazu gehört auch, Kinder nicht schon früh in verschiedene Bildungswege aufzuteilen, die viel zu oft nur den Bildungsweg oder -ehrgeiz der Eltern nachzeichnen. Kinder können nicht im Alter von 10 Jahren auf Bildungsabschlüsse und damit Bildungs- und Lebenschancen für den Rest des Lebens festlegt werden. Die individiuelle Förderung wie das solidarische Lernen in einer Gemeinschaft aus unterschiedlichen Begabungen und Bildungsherausforderungen ist die reformatorische Herausforderung unserer Zeit. Mündige Christen treten für die Bildung mündiger Bürger ein. Bildungschancen können deshalb nicht nach der sozialen Herkunft verteilt werden; überkommene Strukturen dürfen den freien Zugang zur "besten Bildung für alle" nicht behindern. Der Reformationstag erinnert uns daran, nicht nachzulassen in der Erneuerung von Kirche und Gesellschaft, Glauben und christlicher Gemeinschaft.
Das Leben ist nicht ein Frommsein, sondern ein Frommwerden,
nicht eine Gesundheit, sondern ein Gesundwerden,
nicht ein Sein, sondern ein Werden,
nicht eine Ruhe, sondern eine Übung.
Wir sind's noch nicht, wir werden's aber.
Es ist noch nicht getan oder geschehen,
es ist aber im Gang und im Schwang.
Es ist nicht das Ende, aber der Weg.
Es glüht und glänzt noch nicht alles,
es reinigt aber alles. (Martin Luther)
Prälat Stephan Dorgerloh ist Beauftragter des Rates der EKD für die Lutherdekade