Ausstellung: Nedko Solakov "99 Fears"
Nedko Solakovs Arbeit "99 Fears" umfasst 99 Tintezeichnungen, die sich mit den vielfältigsten Formen von Angst auseinandersetzen. 2008 erschien die vollständige Serie zum ersten Mal in Buchform im Phaidon Verlag. Aktuell ist das gesamte Werk im Rahmen der Ausstellung "Emotions (without masks)" auf der Mathildenhöhe in Darmstadt zu sehen.
30.10.2009
Von Claudia Hahn und Andreas Reinwart

"I feel very insecure stepping outside in the darkness" says the man. "Shut the door! Your light is killing me!" the darkness replies by sending vibes to the man. "This is it - I got goose bumps," the man mumbles and steps back into the house leaving the door open. (From "Fears" # 40.)

"Ich fühle mich sehr unsicher in die Dunkelheit hinauszutreten," sagt der Mann. "Schließ’ die Tür! Dein Licht tötet mich!" erwiedert die Dunkelheit, indem sie Vibrationen an den Mann sendet. "Das war’s - ich bekomme Gänsehaut," murmelt der Mann und tritt zurück ins Haus, die Tür offen lassend. (Aus "Fears" # 40.)

Jede einzelne Zeichnung drückt eine Angst aus, die dem modernen Leben entnommen zu sein scheint. Offensichtlich persönliche Befürchtungen des Künstlers wechseln sich ab mit imaginierten, fabelhaften Ängsten und Momentaufnahmen von existenzieller Hoffnungslosigkeit. Die einfach gehaltenen, aber sehr ausdrucksstarken Bilder erscheinen düster, skurril oder vor allem dann von einer anrührenden Komik, wenn die Angst selbst mit Angsterfahrungen konfrontiert wird. Nicht umsonst trollt sich auf dem Buchrücken ein verschüchtertes "Ängstchen".

Handschriftliche Bemerkungen Solakovs kommentieren die Zeichnungen und zeugen vom scharfen Verstand, unkonventionellen Humor und dem selbstironischen Stil des Künstlers. Manche Blätter kommen sogar ohne jede Zeichnung aus. Dort ist es allein die Phantasie der Geschichte, die ein Angstszenario evoziert. Gerade dort, wo nichts zu sehen ist, berührt den Betrachter der ungreifbare und nebulöse Charakter von Angst mit besonderem Schauer.

Das verräterische Geschenk

Zwischen der Eindeutigkeit von Helligkeit und Dunkelheit, von Ja und Nein (99 Fears # 34), macht er Unsicherheit und Widerspruch, die Mehrdeutigkeit als Scheitern am Eindeutigen und damit letztlich überhaupt die Angst vor der Konfrontation mit dem Leben und der Notwendigkeit, seinen Weg durch Entscheidung zwischen unterschiedlichen Optionen zu finden, sichtbar. Uns allen bekannte Urängste oder ganz konkrete Zukunftsängste stehen neben fantastischen Erzählungen von Geistern und Teufeln. Die größte Desillusionierung bereitet Solakov dem gläubigen Betrachter, indem er ihm einen Blick in den Himmel gewährt: Dort ist es schön und ruhig. Paradiesisch also? Bei weitem nicht. Denn die Angst, eines Tages sterben zu müssen, scheint auf absurde Weise ein unveräußerlicher Teil des Wesens dieses glücklosen Himmelsbewohners zu sein (99 Fears # 10).
Der ironische Duktus des Künstlers lässt über die überwältigende Tiefe des Widerspruchs, den unsere Gewohnheiten bei Ansicht und Lektüre des Buchs erfahren, lachen - bis es im Halse stecken bleibt - dafür aber mit höchstem Unterhaltungswert. Solakovs Kosmos ist universal. Er enthält Konventionelles wie Unbekanntes und Unorthodoxes. Es ist sowohl die Frau zu sehen, die davon überzeugt ist, ihr Mann müsse sie betrogen haben, weil er ihr Blumen schenkt (99 Fears # 77), als auch die aus ihrem tristen Leben in ein neues Abenteuer fliehenden Männer.

99 Zeichnungen eines mystischen Kosmos

Das Thema Angst begleitet Solakovs Künstlerbiographie - kaum verwunderlich, erinnert man an dessen Erleben des Untergangs des Sozialismus. Seine Werke sind aber mehr als künstlerische Selbsttherapie. Sie sprechen den Betrachter unmittelbar in dessen eigenem Befinden an. Sie konfrontieren ihn mit der Frage nach der Rechtmäßigkeit von Konventionen und Ordnungen und zwingen ihn, die vermeintlichen Sicherheiten seiner Existenz zu reflektieren.
Mit "99 Fears" nimmt Solakov den Betrachter also mit in seine eigenen Angstträume. Die 99 Zeichnungen sind eine Reise durch eine besondere Geisterbahn. Das irrationale Erleben von Angst spielt sich in einem mystischen Kosmos mit einer suggerierten eigenen Realität ab.
Auch hier fehlt die Solakov’sche Leichtigkeit beängstigend schwerer Bilder nicht. Das Buch lässt den Leser die Angstgeschichten mitfühlen. Keine schlechte Übung für alle Angstfreien, wäre es doch eigentlich ein Unglück, gar keine Angst zu kennen (99 Fears # 15).

Die Arbeit wird begeleitet von einer Einleitung der Kritikerin Suzaan Boettger, die die Zeichnungen sowohl in den Kontext früherer Werke Solakovs setzt, als auch mit anderen Darstellungen von Angst in der Kunstgeschichte verbindet.

Die Angst vor der Angst

Mit "Top Secret" streift Solakov die Angst vor seiner bedrückenden Vergangenheit ab. Die
Zukunft ist beängstigend genug. "99 Fears" erzählt von der Überzeugung des Künstlers: Der Mensch kann, darf und muss sogar Ängste haben. Es ist die Angst vor der Angst, derer es gilt, die Hörigkeit zu verweigern. Nur so kann das Wagnis des Lebens gelingen.

Der Künstler

Nedko Solakov studierte an der Sofia Academy of Fine Arts klassische Malerei. Internationale Anerkennung erlangte er vor allem für seine konzeptuelle Auseinandersetzung mit der Zeichnung. Sein umfangreiches und vielseitiges Gesamtwerk umfasst Gemälde und Zeichnungen genauso wie Installationen, Videoarbeiten und Performances. Nicht selten beziehen sich die Arbeiten auf sein Leben unter dem diktatorischen Regime der Sowjetunion, was in den Kunstwerken auf teilweise humoristische aber gleichzeitig kritische Art und Weise zum Ausdruck kommt. Solakovs Werk wird in den bedeutendsten Museen der Welt gezeigt, wie dem Kunsthaus Zürich oder dem MoMA in New York und wurde bei zahlreichen Biennalen (Sydney, 2008; Venedig, 2007; Istanbul, 2005; Havana, 2001; Venedig, 2001, Lyon, 2000) sowie auf der Documenta 12 (2007) präsentiert.


Nedko Solakov: 99 Fears
Text von Suzaan Boettger
99 Farbabbildungen
204 x 294 mm, 112 Seiten, broschiert
978 0 7148 4888 4
24,95 €
Phaidon Verlag, Berlin 2008
Englische Ausgabe