Es soll in der Höhle des Löwen stattfinden. In Frankfurt am Main, wo in Deutschland das meiste Geld gehandelt wird, wollen Gudula Frieling und ihre Mitstreiter am 30. Oktober ihre Thesen an die Paulskirche schlagen: 9,5 "Thesen gegen Wachstumszwang und für ein christliches Finanzsystem" – das soll in erster Linie ein Finanzsystem ohne Zinsen sein. Am nächsten Morgen – dem Reformationstag – soll in der Kirche ein Streit über diese Thesen beginnen. Und wie vor genau 492 Jahren Martin Luthers 95 Thesen sollen die 9,5 Thesen eine Wende in die deutschen Kirchen bringen. "Es ist an der Zeit für Christen, ein Zeichen zu setzen", sagt die Dortmunder Theologin Frieling. "Als Christen müssen wir aus dem gegenwärtigen Finanzsystem ausscheren." Damit meint sie konkret: Christen sollen keine Zinsen mehr zahlen – und auch nicht bezahlen lassen.
Der Initiativkreis 9,5 besteht aus vier Mitgliedern: zwei Theologen und zwei Wirtschaftswissenschaftlern, die sich aus dem Verein "Christen für eine gerechtere Wirtschaftsordnung" kennen. Ihre 9,5 Thesen leiten sie aus der Bibel ab – und aus der Volkswirtschaft. "Dass Zinsen nicht von Gott gewollt sind, steht ganz eindeutig in der Bibel", sagt Gudula Frieling. Und zitiert Jesus Christus nach Lukas 6,35: "Ihr sollt leihen, auch wo ihr nichts dafür erhoffen könnt. Dann wird eurer Lohn groß sein." Und auch das Alte Testament liefert dem Initiativkreis einen Beleg: "Du sollst von deinem Bruder und deiner Schwester nicht Zinsen nehmen, weder für Geld noch für Speise noch für alles, wofür man Zinsen nehmen kann" (Deuteronomium 23,20).
Zinsen setzen Wirtschaft unter Wachstumszwang
Für die 40-jährige katholische Wissenschaftlerin steht fest: "Zinsen sind an sich unmoralisch, denn warum sollte sich eine geliehene Geldsumme vermehren? Dieses Wirtschaftsdogma setzen alle Menschen inzwischen als selbstverständlich voraus, aber es ist falsch." Und schädlich für das gesamte Wirtschaftsystem und somit für die Gesellschaft, argumentiert der Initiativkreis 9,5. "Zins und Zinseszins lassen Geldvermögen wachsen und setzen die Wirtschaft unter einen Wachstumszwang. Das verleitet zu unmoralischen Geschäften", sagt Initiativkreis-Mitglied Ralf Becker, der auch am aktuellen Wirtschaftsbericht des Club of Rome mitarbeitet. "Das Wachstum der Zinsen ist so schnell, dass es auf der Erde nicht ansatzweise genug Rohstoffe als Gegenwert gibt – die Geldblasen sind also zum Platzen verurteilt." Ein weiterer Grund, auch moralisch gegen Zinsen zu sein: "Auch die Schere zwischen Arm und Reich wächst durch Zinsen."
Aus diesem System sollen die christlichen Kirchen ausbrechen, fordert der Initiativkreis 9,5. "Am besten wäre es natürlich, die ganze Welt verabschiedet sich daraus, aber wir Christen sollten endlich damit beginnen, weil unsere Religion das ja auch fordert", sagt Gudula Friesing. "In den Kirchen müssen zinsfreie Alternativen zum Finanzsystem entwickelt und angewendet werden." Bislang gibt es diese nicht. Die kirchlichen Banken investieren zwar in so genannte "ethische Anlagen" – also Projekte mit sozialem Anspruch – kalkulieren aber mit Zinsgewinn wie die meisten Banken. "Dadurch sind auch sie dem Druck ausgesetzt, Profit zu machen." Auch die Zusatzversicherung der kirchlichen Angestellten ist auf sechs Prozent Zinswachstum hin kalkuliert. "Das trägt zur Instabilität des Finanzsystems bei."
Weil die Kirche selbst Arbeitgeber ist und auch Produkte herstellt, sollte sie einen anderen Umgang mit Geld haben, finden die Mitglieder des Initiativkreises. Ihre drastischste Idee: eine eigene zinsfreie Kirchenwährung, mit der innerhalb der Kirche gezahlt wird. Etwas Ähnliches gibt es in einigen Städten und Gemeinden bereits: So genanntes Regiogeld, das zum Beispiel "Chiemgauer" heißt oder "Sterntaler" und als zinsfreies Zahlungsmittel in Geschäften der Region akzeptiert wird – wie normales Geld. Der Unterschied: Es vermehrt sich nicht durchs Sparen. Im Gegenteil: Wird es nicht innerhalb von zwei Monaten ausgegeben, muss eine Umlaufgebühr gezahlt werden.
Bewusstseinswandel beim Thema Geld
Die Mindestforderung der Initiative: "Wir müssen über Alternativen ins Gespräch kommen. Dass innerhalb der Kirche zinslos Geld an andere Christen verliehen wird, sollte beispielsweise selbstverständlich sein", sagt Gudula Frieling. "Es muss unter Christen einen Bewusstseinswandel geben, was Geld betrifft. Dass es zu wachsen hat, ist ein dämonischer Zwang geworden – auch unter Christen." Ohne Zinsen würden Christen solidarischer leben und viel bewusster und besser mit Geld umgehen.
Zinskritik kommt auch von nichtreligiöser Seite: Zinsen sind für Wirtschaft und Gesellschaft eine unkontrollierbare Gefahr, findet Jürgen Kremer, Professor für Wirtschaftsmathematik am Remagener RheinAhrCampus der Fachhochschule Koblenz. Damit stellt er sich gegen den Mainstream der Wirtschaftswissenschaft, der Zinsen als Wachstumsmotor der Wirtschaft sieht und Wachsen grundsätzlich für gut hält. Für Kremer sind das "Dogmen, die sich niemand bemüht zu beweisen."
Weil er selbst kein gelernter Volkswirt ist, sei er für seinen Wirtschaftsmathematik-Lehrstuhl unbefangen an das Thema Zinsen herangegangen, erzählt der studierte Physiker mit Mathematik-Doktor und Berufserfahrung als Programmierer bei einer Bank. Nach der Lektüre der Lehrbücher kommt er zu einem vernichtenden Urteil: "Die Volkswirtschaft ist eine intellektuelle Zumutung." Er zeichnete die Kreisläufe des Geldes nach – in seinen eigenen Modellen.
Deren Logik klingt bezwingend: Unternehmen verkaufen Produkte und Dienstleistungen. Dafür geben Kunden das Geld aus, das sie als Lohn erhalten. Das ist der einfachste Kreislauf, den es aber in der Realität kaum gibt. Denn bei fast allen Unternehmen kommen Kredite ins Spiel, "sie sind die größten Schuldner der Bundesrepublik" sagt Kremer. Die Unternehmen leihen sich also Geld für die Produktion. Das Geld gehört den Sparern, verliehen wird es gegen Zinsen. Die Kosten der Zinsen werden beim Verkauf auf die Produkte aufgeschlagen. Die Zinsen zahlen also die Käufer – auch die, die kein oder kaum Vermögen haben, das ihnen selbst Zinsen einbringt.
Zinsen lassen System zusammenbrechen
Um zu berechnen, was geschieht, wenn sich dieser Kreislauf immer von neuem wiederholt, hat Jürgen Kremer ein Computerprogramm geschrieben. Und das ist zu erschreckenden Ergebnissen gekommen: "Durch das Zinssystem wird das Wirtschaftssystem irgendwann zusammenbrechen und wir können nur hoffen, dass es nicht zu sehr blutigen Revolutionen kommen wird." Denn Kremers Zahlen zeigen, dass sich das Geld stetig von unten nach oben verteilt – das Vermögen der Wohlhabenden wächst, während die unteren Einkommensgruppen immer weniger haben werden. "Das liegt am Zinssystem", sagt Kremer.
"Weil die Unternehmen verschuldet sind, müssen sie die Zinsen irgendwie finanzieren. Netto tun das die unteren Einkommensklassen, denn die oberen verdienen durch ihr Vermögen mehr Zinsen als sie durch Konsum ausgeben." Je länger die Schieflage dauert, desto stärker wird die soziale Ungleichheit, errechnet der Computer. "Zinsen lassen das Geld immer weiter wachsen, bis ins Absurde", sagt Kremer. "Es gibt schon längst keinen physikalischen Gegenwert auf der Welt mehr für das Geld." Und es ist geliehen – gegen Zinsen, die es immer weiter wachsen lassen, für Schuldner und für Gläubiger. Fünf Prozent des Geldes auf der Welt sind überhaupt real als Bargeld verfügbar, "der Rest jagt als Giralgeld digital über den Globus", sagt Kremer. "Irgendwann sind die Schuldner so verschuldet, die Kaufkraft der Massen so gering, dass das System kollabiert. Denn die Löhne können niemals so stark wachsen wie Zins und Zinseszins." Wann das ist, kann er nicht sagen. "Es lässt sich politisch einiges abbremsen, durch Steuererhöhungen, die es ja nicht geben soll, Rettungspakete für kollabierende Unternehmen, deren Geld auch geliehen ist von einer ohnehin stark verschuldeten Regierung, die ein Drittel ihres Haushaltes für Zinsen ausgeben muss. Tendenz steigend."
In einer Welt ohne Zinsen würde Geld nicht einfach so wachsen, sondern nur durch reale Investition, Vermögen würde sich nicht vermehren, aber auch die Schulden nicht. Nach Kremers Modell würden die Reichen nicht mehr reicher und die Armen weniger arm. Denn wenn die Schulden der Unternehmen nicht mehr wachsen, werden Produkte und Dienstleistungen günstiger. Die Schulden des Staates wachsen nicht mehr weiter, Sozialleistungen müssen nicht weiter abgebaut werden. "Der heutige Sozialstaat muss, so wie es jetzt läuft, drastisch abgebaut werden, um den völligen Staatsruin herauszuzögern. Es ist nur eine Frage der Zeit", sagt Kremer. Daran sollen sich Christen nicht mehr beteiligen, findet der Initiativkreis 9,5.
Christliche Debatte angestrebt
Begeisterung haben sie damit bislang von Seiten der Kirche nicht geerntet. Ihre Thesen haben sie nämlich schon vor Monaten an die Kirchen- und Ordensoberhäupter verschickt. Geantwortet hat ungefähr die Hälfte, viele davon sehr kritisch. Die Evangelische Kirche (EKD) stört sich vor allem an dem Thesenanschlag, der so mit anderen Inhalten des Reformationstages konkurriere. Die Anspielung auf Luther sei unangemessen. Das Sozialwissenschaftliche Institut wolle sich damit befassen, ob eine Unterstützung aus sachlichen Punkten in Frage komme. Einige katholische Bischöfe bezeichneten das Thema zwar immerhin als "interessant", sahen aber auch finanzielle Problem der Umsetzbarkeit.
Dabei muss ein zinsloses Bankensystem nicht unbedingt Verlust bedeuten. Das islamische Bankensystem praktiziert aus religiösen Gründen ein Zinsverbot. Die Finanzkrise hat es weitgehend unbeschadet überstanden. "Der islamische Bankenmarkt wächst sogar weiter", sagt Berhard Nietert, Professor für Finanzen und Banken an der Universität Marburg. Wegen des Zinsverbotes wächst das Geld der Sparer nicht aufgrund von Zinsen, sondern dadurch, dass die Banken in islamkonforme Unternehmen und Projekte investieren und ihre Kunden an Gewinnen und Risiken beteiligen. "Es ist nicht moralischer, es gibt nur andere Regeln", findet Nietert. "Ich halte es für sozialer, allen Sparern Zinsen versprechen zu können, als ihnen vielleicht gar keinen Gewinn bieten zu können, wenn ein Projekt schlecht gelaufen ist."
Gudula Frieling sieht das natürlich anders. "Ob das islamische Bankensystem eine gute Alternative ist, wissen wir nicht. Aber auch damit wollen wir uns beschäftigen, wenn wir endlich eine christliche Debatte über Zinsen haben."
Info:
Mit der Wirtschafts- und Finanzkrise hat sich auch der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland befasst.
Miriam Bunjes ist freie Journalistin und lebt in Dortmund. Ihre Texte erscheinen bei verschiedenen Tageszeitungen (u.a. "die tageszeitung") und Internetportalen.