Der alte und neue Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hat bei der konstituierenden Sitzung des Bundestags diesen zu mehr Selbstbewusstsein aufgerufen. Nicht die Regierung halte sich ein Parlament, sondern das Parlament bestimme die Regierung, sagte Lammert bei der Sitzung im Berliner Reichstagsgebäude. "Der Bundestag ist nicht Hilfsorgan, sondern Herz der politischen Willensbildung in unserem Land."
"Mit souveräner Sturheit der Unterhaltung Vorrang eingeräumt"
Lammert appellierte zugleich an die Abgeordneten, die parlamentarische Arbeit zu verbessern. Die Verpflichtung zur öffentlichen Debatte im Parlament werde nicht hoch genug geschätzt. Er betonte auch die Bedeutung der Opposition. "Regiert wird immer und überall", sagte er. "Die Opposition macht den Unterschied." Lammert prangerte die hohe Zahl von Nichtwählern an. Ein Grund sei diesmal auch "intellektuelle Überheblichkeit", die in einer Aufforderung zur Wahlverweigerung gegipfelt sei, sagte er mit Blick auf Medien.
Scharf kritisierte Lammert (CDU) die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender. Er prangerte an, dass ARD und ZDF am Dienstag nicht die konstituierende Sitzung des Bundestags übertragen, sondern einen Spielfilm oder Telenovelas zeigen. "Mir fehlt jedes Verständnis, dass ein gebührenpflichtiges Fernsehen, das dieses üppig dotierte Privileg allein seinem besonderen Informationsauftrag verdankt, auch an einem Tag wie heute mit einer souveränen Sturheit der Unterhaltung Vorrang vor der Information einräumt." Allerdings übertrug der öffentlich-rechtliche Nachrichtensender Phoenix die Sitzung.
Fünf Stellvertreter für Lammert
Seine Wiederwahl bezeichnete Lammert als "hohe Auszeichnung und große Verpflichtung". Er sicherte zu, er werde sein Amt "so überparteilich wie möglich" führen. Er war zuvor mit großer Mehrheit zum Präsidenten des 17. Deutschen Bundestags gewählt worden: mit 522 von 617 abgegebenen Stimmen. 66 Abgeordnete stimmten gegen seine Wiederwahl, 29 enthielten sich. Einen Gegenkandidaten gab es nicht. Lammert übt das Amt bereits seit 2005 aus - damals hatte er 564 von 607 Stimmen erhalten.
Zu seinen Stellvertretern wurden Wolfgang Thierse (SPD), Gerda Hasselfeldt (CSU), Hermann Otto Solms (FDP), Petra Pau (Linksfraktion) und die Grünen-Abgeordnete Katrin Göring-Eckardt gewählt, die auch Präses der Synode der Evangelischen Kirche ist, die derzeit in Ulm tagt. Göring-Eckardt erhielt das drittbeste Ergebnis, Thierse schnitt mit nur 371 von 618 abgegebenen Stimmen am schlechtesten ab. Die meisten stimmen erhielt Gerda Hasselfeldt.
"Ethik reicht weiter als das Gesetz"
Eröffnet wurde die Sitzung im Reichstagsgebäude wie immer vom Alterspräsidenten - das ist diesmal Heinz Riesenhuber (CDU). Er nannte als größte Herausforderung eine weltweite Einigung über die Regeln der Märkte und erinnerte Banken und Konzerne an ihre Verantwortung bei der Bewältigung der Wirtschaftskrise. "Die Ethik reicht immer weiter als das Gesetz", sagte der 73-Jährige. Die Wirtschaft habe ebenso wie die Politik eine "Verantwortung fürs Ganze". "In dem Maße, wo die Unternehmen die Verantwortung übernehmen, wächst die Freiheit für das Ganze."
Weiter sagte der ehemalige Forschungsminister, in schwierigen Zeiten wie heute sei "Optimismus Pflicht". Es sei erfreulich, dass den Bundesbürgern die Zuversicht nicht abhandengekommen sei. Erforderlich seien jetzt "neue Rahmenbedingungen, damit eine solche Krise nicht wieder passiert." Angesichts der globalisierten Welt mit unterschiedlichen Vorstellungen in vielen Ländern sei dies aber nur im weltweiten Rahmen möglich.
"Politiker in letzter Konsequenz Gott verantwortlich"
Vor der konstituierenden Sitzung des 17. Deutschen Bundestages feierten die Parlamentarier am Dienstagmorgen einen ökumenischen Gottesdienst. Bundespräsident Horst Köhler und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nahmen an dem Gottesdienst in der katholischen St. Hedwigs-Kathedrale teil, ebenso Lammert, Riesenhuber sowie bisherige und künftige Minister.
Der Bevollmächtigte der evangelischen Kirche, Prälat Bernhard Felmberg, sagte in seiner Predigt über das Gleichnis vom treuen und klugen Verwalter, Politiker seien als Verwalter und Gestalter vom Volk gewählt, in letzter Konsequenz aber Gott gegenüber verantwortlich. Sie seien in besonderem Maß aufgefordert, für das Gemeinwohl zu handeln, da ihnen große Verantwortung übertragen worden sei.
Nächstenliebe als Leitmotiv gerechter Politik
Der Vertreter der Katholischen Kirche, Prälat Karl Jüsten, erinnerte die Politiker daran, dass ihnen ihr Amt nur auf Zeit anvertraut ist. Er wünschte den Abgeordneten politische Klugheit, Gerechtigkeitssinn und Augenmaß für die vor ihnen liegenden Aufgaben. Nach dem christlichen Glauben komme es darauf an, ob Nächstenliebe sich als Leitmotiv einer gerechten Politik wiederfinden lasse.
Das neu gewählte Parlament muss spätestens 30 Tage nach der Wahl zur ersten Sitzung zusammenkommen. Dem 17. Bundestag gehören 622 Abgeordnete an, elf mehr als am Ende der vergangenen Legislaturperiode. Die Union stellt mit 239 Abgeordneten die stärkste Fraktion. Die SPD-Fraktion hat nur noch 146 Mitglieder, als drittstärkste Kraft folgt die FDP. An diesem Mittwoch soll Kanzlerin Merkel wiedergewählt werden. Anschließend werden die Kabinettsmitglieder vereidigt.