Störungen im Betriebsablauf (Folge 6)
Unsere Kolumnistin Ursula Ott ist viel unterwegs. Meistens mit der Bahn. Und da meistens im ICE. Über das, was ihr dort passiert, was sie hört und sieht, schreibt sie. Und nein, es ist nicht immer die Bahn schuld.
27.10.2009
Von Ursula Ott

Meine Woche vom 2. bis 6. November

Montag

Das Schöne an der Bahn ist ja, dass sie – zumindest in den Nahverkehrszügen und am Bahngleis – alle Menschen gleich macht. Ob Trolley oder abgewetzter Rucksack, Montag morgen trifft es alle gleichermaßen. Brutales Gedränge und Geschiebe am Gleis, ekliger Nieselregen und alle dasselbe aschfahle Gesicht: keine Lust. We don't like mondays, und zwar keiner von uns. Und dann treffen, gerade am Montag, die Trolley-Träger auf Menschen, denen sie die Woche über in ihren Frankfurter Banken- und Versicherungstürmen wohl nie begegnen werden. Spinner. Junkies und Ex-Junkies. Menschen, die auch im November nach der ersten saukalten Nacht des Jahres allen Ernstes barfuß auf dem verpissten Bahnsteig rum laufen. Solche Menschen gibt es am Bahnhof besonders häufig, bei allen ernsten Bemühungen der Bahn um coole Lounges und propere Shopping Malls. Der Bahnhof ist und bleibt ein sympathisches Biotop für Bekloppte.

Dienstag

Für einige, die von der Gesellschaft abgehängt wurden, gibt es eine segensreiche Einrichtung am Kölner Bahnhof, die Radstation. Ein Projekt der Agentur für Arbeit, für "benachteiligte Menschen und Langzeitarbeitslose". Sie passen auf Räder aus, reparieren sie auch bei Bedarf. Für mich ist das wunderbar, ich bezahle 70 Cent am Tag und weiß mein Rad gut behütet. Nur eins geht nicht: Mein Tempo, geschuldet dem sogenannten 1. Arbeitsmarkt, auf diesen betreuten, sogenannten 3. Arbeitsmarkt zu übertragen. Ich habe es eilig, oft sehr eilig, weil mein Zug fährt, aber Hektik geht gar nicht in der Radstation. Hektik ist offenbar im Therapiekonzept nicht vorgesehen, und das kann ich auch verstehen. Da hilft nur eins: 70 Cent in Münzen parat haben, keine überflüssigen Komplikationen verursachen, und bloß nicht hektisch werden. Das bringt hier nur alles durcheinander.

Mittwoch

Wie so oft stellt sich die Frage: Wer ist hier eigentlich bekloppt? Die Normalen oder die Verrückten? In der S-Bahn nach Köln-Deutz sitzen mir heute zwei alte Damen gegenüber, vielleicht sind sie Schwestern, vielleicht alte Freundinnen. Eine guckt verträumt nach draußen, denn draußen scheint wunderbar die Sonne. Wir fahren über den Rhein, dort ist die Herbstkirmes aufgebaut mit bunt schillerndem Riesenrad, auf dem Fluß fährt die Wasserschutzpolizei, wahrscheinlich nur zum Spaß, denn dies ist einer der raren goldenen Herbsttage. Aber die Ärmste kriegt keine Ruhe, weil die andere sie mit ihrer Weihnachtsplanung quält. Beleidigt, fordernd. "Ich kann auch gut und gern allein bleiben Heiligabend", sagt sie beleidigt, und zupft die andere immer wieder am Ärmel, "guck mich doch mal an, wenn ich mit dir rede." Aber die andere leistet zivilen Ungehorsam. Guckt einfach in den schönen Herbsthimmel. Recht hat sie. Heiligabend ist noch zwei Monate hin, heute ist heute, und heute scheint die Sonne.

Donnerstag

Ich fürchte, manche Leute machen sich nicht so recht bewusst, dass ein Zug doch ein sehr öffentlicher Raum ist. Betreiben Datensicherung im PC, aber reden im Abteil über Dinge, die wirklich keinen was angehen. Heute sitzt in der S-Bahn zum Flughafen ein müder Manager. Er fliegt nach Zürich, danach drei Stunden weiter mit dem Zug, "ich wusste gar nicht, dass die Schweiz überhaupt so groß ist, haha. Hab grade mal eine Stunde, dem Abt das Grundstück abzuschwatzen, haha, muss reichen." Ich kann nichts dafür, ich muss mit hören, die S-Bahn ist überfüllt. Und ich überlege, wie ich es finden würde, wenn einer meiner Geschäftspartner, wenn mein Arzt, mein Chef oder mein Vermieter so über mich reden würde im Zug. Nicht schön.

Freitag

Eine der Eigenheiten der Zugreisenden, die sehr zugenommen hat, ist das Schlafen. Ja, wirklich, je besser die Züge werden, desto seliger schlafen die Menschen. Hier spricht der Neid der Schlaflosen, ich kann überhaupt nicht schlafen unterwegs. Und dieser Mitreisende, hallo falls der das hier liest, dieser Mittvierziger mit dem Klapprad, der immer um 17.10 mit mir den ICE nach Köln besteigt und schon am Frankfurter Flughafen-Fernbahnhof in seine zweite REM-Phase eintaucht – der macht mich fast so aggressiv wie die Handy-Telefonierer. Der schnarcht mindestens so laut wie ein mittelmäßig aufgeblasener Controller telefoniert. Chhhhr, je leiser der ICE, desto mehr fällt es auf. Aber heute ist ja Freitag, die Toleranzschwelle steigt, soll er halt schlafen, vielleicht radelt er auf seinem Klapprad Freitag abends einer anstrengenden neuen Liebe entgegen, für die er ausgeschlafen sein muss. Montag sehn wir uns wieder, mit Rucksack oder Rollkoffer. Ich bestell mal Sonne.


Über die Autorin:

Ursula Ott, 45, ist stellvertretende Chefredakteurin von chrismon, Chefredakteurin von evangelisch.de, Mutter von zwei Kindern und pendelt täglich zwischen Köln und Frankfurt.www.ursulaott.de

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