Am Ende waren die Fans nicht mehr zu halten. Plácido Domingo lag noch als Sterbender auf der Bühne, Verdis "Simon Boccanegra" war kaum verklungen - da brach an der Berliner Staatsoper Unter den Linden der Beifallsorkan aus. Der Spanier sang und siegte. Diesmal kam er nicht als Tenor nach Berlin, sondern erstmals als Bariton - ein Abstieg in die stimmliche Mittellage für einen Opernstar, der schon 130 Rollen gesungen hat. Mit 68 Jahren hat sich Plácido Domingo neu erfunden, ans Rentnerleben will der unermüdliche Sänger, Dirigent, Intendant und Wohltäter nicht im Traum denken.
Viele Domingo-Fans waren eigens nach Berlin gekommen, um am Samstagabend ihrem Helden im Rollendebüt zu huldigen. Zwar hatte er schon Mitte der 90er Jahre die Boccanegra-Partie aufgenommen. Und seine Sängerlaufbahn hatte Domingo in Mexiko ohnehin als Bariton begonnen. Seit Monaten waren die sechs Vorstellungen ausverkauft. Die Premiere, zu der auch Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller und Ex-Außenminister Joschka Fischer kamen, geriet zum Domingo-Festival.
Es ist ein düsteres Spiel von Macht und Intrigen, das sich Domingo für seine Rückkehr ins Bariton-Fach ausgesucht hatte. Doch mit seiner Bühnenpräsenz schafft er die richtige Mischung aus Autorität und Zerbrechlichkeit. Nach mehr als einem halben Jahrhundert Karriere dürften wenige Sänger das Publikum so stark beeindrucken.
Statisch inszeniert, toll gesungen
Die Aufstiegsgeschichte des Bürgers Simon Boccanegra zum Herrscher von Genua gilt als italienisches Gründungsepos. Mit dem 1857 uraufgeführten Werk beschwört Giuseppe Verdi (1813-1901) die nationale Einheit. Und so hat Regisseur Federico Tiezzi die Koproduktion mit der Mailänder Scala als Historienoper aufgebaut - konservativ, statisch, flach. Fast drei Stunden lang stehen die Darsteller in Gewändern des 14. Jahrhunderts (Kostüme: Giovanna Buzzi) auf der künstlich verknappten Bühne vor wechselnden Fassaden - mal ist es der Palast des Boccanegra-Gegners Fiesco, die Stirnwand im Dogenpalast oder eine Rückprojektion des tobenden Meeres (Bühnenbild: Maurizio Baló).
Wie einen Politkrimi wolle er die Rankünen am Hofe Genuas inszenieren, hatte Tiezzi angekündigt. Verdi sah in «Simon Boccanegra» sein politisches Vermächtnis. Zu sehen war aber in Berlin ein Frontalunterricht in italienischer Geschichte, für den Tiezzi ausgebuht wurde, selbst wenn sich Generalmusikdirektor Daniel Barenboim demonstrativ an seine Seite stellte.
Dafür lieferte Barenboim den passenden Verdi-Klang. Vom sanft-flirrenden Einstieg bis zu den auftrumpfenden Passagen - die Staatskapelle Berlin lässt den Abend vor allem ein Hörereignis werden. Dazu tragen auch die Darsteller bei, an erster Stelle die jüngst zur "Sängerin des Jahres" gekürte Anja Harteros als Boccanegras Tochter Amelia, Kwangchul Youn als Fiesco und Hanno Müller-Brachmann als Albiani. Anfänglich enttäuschend, findet Fabio Sartori als Boccanegras Gegenspieler Adorno doch noch zu seiner Stärke.
Und als Domingo dann wie in Michelangelos "Pietá" sterbend in den Armen seiner Tochter ruht, scharren schon die ersten Bewunderer mit ihren Füßen unter den Sitzen. Viele haben schon die Blumen zum Abwurf bereit. Nur der lange Schlussakkord hält die Menge noch auf ihren Plätzen, bis sie endlich loslegen dürfen: Sie huldigen ihrem Star, Plácido Domingo.