Diagnose HIV-positiv: "Leben ist schon viel"
Heike weiß seit 16 Jahren vom Virus in ihrem Körper. Ihr Job, ihre Familie und ihre offensive Art bewahren sie vor der Isolation.
24.10.2009
Von Maike Freund

Nein, sie schämt sich nicht. Warum sollte sie auch? Es ist, wie es ist. Und sie ist froh, dass sie sich nicht in Selbstvorwürfen zerfleischt, das würde auch nichts nützen. Stattdessen kämpft sie, hat sich ihren Lebensmut nicht nehmen lassen. Jetzt, da es ihr wieder besser geht, ist sie "nicht optimistischer als der Durchschnittsmensch". Aber als es hart auf hart kam, als sie nicht wusste, wie viel Zeit ihr noch bleibt, als die Ärzte ihr höchstens noch ein Jahr gaben, da bejahte sie ihr Leben besonders.

Heike ist 44. Die Diagnose: HIV-positiv. Mit 28 hatte sie den Test machen lassen; mehr aus Routine, denn aus Sorge: "Ich hab' doch sowieso nichts", dachte sie. Dann kam das Ergebnis. Und das Blutbild zeigte, dass sie sich schon vor einigen Jahren bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr angesteckt haben musste.

Ein Jahr hatte sie noch, in dem es ihr gut ging. Das lebte sie auf der Überholspur: Gönnte sich keinen Schlaf, weil schlafen vergeudete Zeit war. Hing nicht mehr vor dem Fernseher ab, vergammelte keinen Sonntag mehr. Sie wurde hyperaktiv und offensiv. Zum Beispiel bei dem Mann, den sie kennen lernte. Sie sprach ihn einfach an, ohne darüber nachzudenken. Das hätte sie sich früher nicht getraut. Ihr neues Lebensmotto wurde: Was kostet die Welt? Ich nehm' sie mir! Weil sie wusste, sie würde nicht ewig Zeit haben.

"Ja, ich will leben"

Dann, ein Jahr nach der Diagnose, kamen die ersten Krankheiten: Durchfall, der nicht mehr aufhörte, 20 Kilogramm nahm sie in einem halben Jahr ab. Als Nebenwirkungen auf die HIV-Medikamente gingen ihre Blutwerte in den Keller. Weil das Immunsystem geschwächt war, folgten Lungen- und Bauchspeicheldrüsenentzündungen, in Folge eines weiteren Virus erblindete sie auf dem rechten Auge. Schließlich wurde sie so schwach, dass sie nur noch zwischen Krankenhaus und Bett zu Hause hin und her pendelte, ständig Infusionen brauchte. Sie wog 35 Kilogramm.

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In dieser Zeit, in der der Tod jede Minute so nah war, hat sie viel über das Sterben nachgedacht. Und entschieden, dass sie nicht jammern und nörgeln, nicht unzufrieden sein will. Stattdessen war ihr Gefühl immer noch: Ja, ich will leben. Nur mit der Einschränkung: Wer weiß, wie lange noch. Also hat sie sich an den kleinen Dingen erfreut, hat vieles bewusster wahrgenommen: das Zwitschern der Vögel am Morgen oder gute Musik.

Ihre Familie unterstützt sie bis heute. Den Eltern, der Schwester und dem Schwager hat sie es erzählt, als sie musste, als die Krankheit deutlich sichtbar wurde und sie sie nicht mehr verheimlichen konnte. Und sie kümmerten sich um sie, auch, als sie pflegebedürftig wurde. Heike ist von Anfang an offensiv mit ihrer Krankheit umgegangen und hatte Glück: Nur selten hat sie Ablehnung oder Diskriminierung erfahren. Die Freundin, der sie sich nach der Diagnose anvertraute, fing sie auf und stand ihr bei. Später hat sie zu ihren Freunden gesagt: Fragt mich, wenn ihr was wissen wollt. Bevor ihr euch aus Angst abwendet, bevor ich in die Isolation rutsche. Das hat geholfen.

Neue Medikamente halfen ihr zurück ins Leben

Einmal, in der Zeit, in der sie sehr krank war, kamen Arbeitskollegen ihres damaligen Lebensgefährten auf einen Teller Nudeln und ein Glas Wein mit nach Hause. Sie am Herd, die Spaghetti in der Hand, die Stange mit dem Infusionsbeutel - ihrem ständigen Begleiter - neben dem Kochtopf. Völlig ausgemergelt, schockierend für ihre Umwelt. Da hat sie in den Augen der Bekannten gelesen, dass es gar nicht die Angst vor der Infektion war, die einem netten Abend im Weg stand. Sondern dass die Kollegen nicht bereit waren, den Faktor Krankheit in ihr Leben zu lassen, eine Kranke zu ertragen. "Ich bin denen auf den Magen geschlagen", sagt sie.

Von 1996 an, vier Jahre nach der Diagnose, ging es aufwärts. Mit einer neuen Generation Medikamente gab es einen Therapie-Durchbruch. Zwei Jahre später fing sie wieder an zu arbeiten; nicht mehr in der Touristikbranche, sondern bei der Aids-Hilfe. Sie weiß, dass sie mit ihrem Job Glück hat. Dort braucht sie ihre Krankheit nicht zu verstecken, ist vor Diskriminierung sicher. Das ist nicht die Regel. Die meisten Betroffenen leiden unter dem Druck, die Krankheit vor dem Arbeitsumfeld verstecken zu müssen. Privates und Beruf nie vermischen zu können. Keine Freunde unter Kollegen haben zu können. Heike weiß: Sie könnte das nicht aushalten.

"Leben ist schon viel"

Alle zwei Monate will ihr Arzt sie sehen. Sie geht eher alle drei, weil sie nicht will, dass die Ärzte ihr Leben bestimmen. Problematisch wird es, wenn sie einen Termin beim Zahnarzt braucht und ihre Stamm-Ärztin nicht da ist. Denn viele Mediziner haben Angst und behandeln sie deshalb nicht. Also musste sie schon so manches Mal Schmerzen ertragen.

Schwierig ist es immer dann, wenn sie einen Mann kennen lernt, wenn sie sich verliebt. Wann, wie, wo ist der richtige Zeitpunkt, es zu sagen? Beim ersten Kontakt wohl nicht, da muss er es noch nicht wissen, auch nicht beim folgenden gemeinsamen Essen oder Kinobesuch. Aber dann irgendwann muss es sein. Wird er mich zurückweisen? Die Frage stellt sie sich immer. Das Outen bleibt Selbstüberwindung.

Heute gibt sie sich selbst mindestens noch 20 Jahre. Und das bedeutet: Sie plant wieder. Früher war das anders. Kein Gedanke an vermögenswirksame Leistungen. Warum auch, wenn das Leben jeden Moment zu Ende sein kann? Ihren Traum, in den Süden auszuwandern, musste sie an den Nagel hängen. Auch Kinder hat sie keine bekommen. Erst ging es ihr zu schlecht. Dann hat sie sich nicht getraut. Jetzt, sagt sie, ist sie zu alt. Damit kann sie leben. Denn Leben ist schon viel.


Maike Freund ist freie Autorin aus Dortmund.