Nach 27 Jahren entführt Vater des Opfers mutmaßlichen Täter
Ein 74-Jähriger deutscher Arzt wird gefesselt und geknebelt in Frankreich gefunden: In dem aktuellen Entführungsfall gipfelt eine jahrzehntelange gruselige Familiensaga.
21.10.2009
Von Petra Klingbeil und Ulrike Koltermann, dpa

Seit 27 Jahren hat er jeden Tag das Grab seiner Tochter Kalinka besucht. André B. hat teure Privatdetektive beschäftigt, um den mutmaßlichen Mörder seiner Tochter, den 74 Jahre alten Deutschen Dieter K., in Deutschland beschatten zu lassen. Er hat der französischen Justiz vorgeworfen, den Täter nicht zu verfolgen und 30.000 Euro Prozesskosten gezahlt. Jetzt hat B. zugegeben, die Entführung des Mannes nach Frankreich eingefädelt zu haben, damit dieser erneut vor Gericht gestellt wird. Der 72 Jahre alte Franzose hat den Tod der 15-Jährigen nie überwunden - und ist überzeugt, dass der Täter zu Unrecht ungestraft davon gekommen sei. "Im März 2015 verjährt die Strafe, dann kann ich nichts mehr machen", sagte B. am Mittwoch im französischen Rundfunk.

"Entführung war Verzweiflungstat"

"Er wollte keine Rache. Er musste aber einen Eklat herbeiführen, damit die Justiz ihre Arbeit macht. Es war eine Verzweiflungstat", sagte der Vorsitzende der Vereinigung "Gerechtigkeit für Kalinka" und enger Freund von B., Robert Pince, am Mittwoch.

Kalinka war eine hübsche Jugendliche mit einer blonden Ponyfrisur. Sie verbrachte den Sommer 1982 mit ihrer Mutter und deren neuem Partner, Dieter K., in Lindau am Bodensee. André B. ist überzeugt, dass der Mediziner Kalinka vergewaltigen wollte und ihr eine tödliche Spritze gab. Bei der Obduktion wurden Genitalverletzungen festgestellt.

Nach dem Schock über den Verlust seiner Tochter begann aus Sicht von André B. sein juristischer Leidensweg. "Er hat seine gesamte Energie, seine Zeit und sein Geld für den Justizkampf eingesetzt", sagte Pince. Ein erstes Verfahren in Deutschland gegen Dieter K. wurde eingestellt, weil die Todesursache nicht genau zu ermitteln war. Dreizehn Jahre nach dem Tod des Mädchens verurteilte ein französisches Gericht den deutschen Arzt in Abwesenheit zu 15 Jahren Haft. Doch Dieter K. wurde trotz eines europäischen Haftbefehls nie von Deutschland nach Frankreich ausgeliefert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kritisierte Frankreich wegen des Prozesses, weil das Urteil in Abwesenheit von Dieter K. gesprochen wurde.

Dieter K. in anderem Vergewaltigungsfall verurteilt

1997 stand Dieter K. erneut in Deutschland vor Gericht: Er wurde in Kempten zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt, weil er eine 16-Jährige mit Schlafmitteln ruhig gestellt und vergewaltigt hat. Frauengruppen reagierten mit Empörung auf das ihrer Ansicht nach zu milde Urteil.

Am vergangenen Sonntag wurde der 74 Jahre alte Deutsche gefesselt, geknebelt und am Kopf verletzt im elsässischen Mülhausen gefunden. Die Indizien sprechen dafür, dass B. die Aktion in Auftrag gegeben hat. So hatte B. nach Angaben der Staatsanwaltschaft in Mülhausen Telefonkontakt zu den mutmaßlichen Entführern. In seinem Hotelzimmer fanden sich 19 000 Euro Bargeld - die möglicherweise für die Entführer bestimmt waren. Ein 38-jähriger Mann aus dem Kosovo gestand inzwischen seine Beteiligung.

Noch sind die Details unklar, aber voraussichtlich stehen am Ende sowohl André B. als auch Dieter K. in unterschiedlichen Verfahren vor Gericht: Der Arzt, weil er sich erneut wegen der Tötung des Mädchens verantworten muss. Und der leibliche Vater, weil er bei seinem Wunsch, den Täter bestraft zu sehen, möglicherweise selbst gegen das Gesetz verstoßen hat. Die französische Justiz ermittelt gegen ihn wegen Entführung, hat ihn aber vorerst wieder auf freien Fuß gesetzt.