Stadtführer mit Handicap: "Der zweite Blick" auf Belgrad
Es ist ein milder, sonniger Herbsttag im Park der Belgrader Festung Kalemegdan, die majestätisch über die Mündung der Save in die Donau wacht. Etwa 30 Menschen hören einem jungen schmalen Mann zu. "Ich heiße Sebastian Josimovski", sagt er vorsichtig lächelnd, "ich werde Ihnen heute Belgrad aus meiner Sicht vorstellen."
16.10.2009
Von Danja Antonovic

Seine Augen sind geschlossen, in der Hand hält er einen Stock - Sebastian Josimovski ist blind. Und seine Hautfarbe ist dunkel, denn er gehört zu der Minderheit der Roma. Josimovski ist einer der zehn "alternativen Stadtführer", die in dieser Saison den Touristen die serbische Hauptstadt auf ihre Weise nahebringen wollen.

Die Reisegruppe wird von Sebastian Josimovski viel über die Geschichte der alten türkischen Festung hören. Die Touristen werden aber auch erfahren, wie schwer es für einen Blinden ist, über den holprigen Bodenbelag des Parks zu gehen. Josimovski wird von der längst verschwundenen Romasiedlung Sava-Mala erzählen, aber auch berichten, wie die Roma heutzutage aus dem Zentrum der Stadt verbannt werden. Er wird das erzählen, was die meisten Touristenführer eher verschweigen.

Eine Lobby für die Menschen am Rande

Das Projekt "Der zweite Blick" ("Drugi Pogled") hat der serbische Künstler Dejan Atanackovic ins Leben gerufen. Seine Idee: Die Menschen, die am Rand der Gesellschaft leben, sollen eine Möglichkeit erhalten, aus der Isolation herauszutreten.

"Allein in Belgrad leben 150.000 behinderte Menschen, zehn Prozent der serbischen Bevölkerung leiden an körperlichen oder seelischen Behinderungen. Diese Menschen haben in Serbien keine Lobby", sagt Atanackovic. "Und wieviele Roma hier leben - das wissen wir nicht, weil die meistens nirgends gemeldet sind." Jahrelang hätten die Politiker Behinderte, Roma oder auch Flüchtlinge einfach nicht wahrgenommen, kritisiert er. Erst in diesem Jahr wurde ein Antidiskriminierungsgesetz verabschiedet.

"Die Anderen sichtbar machen", heißt darum der Apell Dejan Atanackovics. Zahlreiche Belgrader Institutionen unterstützen ihn, und so konnten in diesem Frühjahr Kurse beginnen, die "die Unsichtbaren" auf ihre Arbeit als Stadtführer vorbereiteten. Als Dozenten stellten sich ehrenamtlich Historiker, Architekten, Künstler und Kunsthistoriker zur Verfügung. Sie gaben ihr Wissen an Menschen mit Down-Syndrom, an Blinde, Gehbehinderte, an Roma und Flüchtlinge weiter.

"Zur Unbeweglichkeit verdammt"

"Miteinander zu arbeiten und zu lernen, das war genauso wichtig wie das spätere Arbeiten als Stadtführer", erzählt Milos Sandzak, Vorsitzender des Vereins "Aufrecht gehen", der selbst im Rollstuhl sitzt. Später wird Sandzak den Touristen erzählen, wie schwer sein Alltag in Belgrad ist: "Belgrad ist nicht für Rollstuhlfahrer geschaffen. Kein Bus, keine Straßenbahn hat eine Vorrichtung für Rollstuhlfahrer. Das gleiche gilt für Theater, Schulen, Krankenhäuser oder Ämter. Wir sind zur Unbeweglichkeit verdammt", sagt er.

Auch Larisa Radjenovic ist eine ungewöhnliche Stadtführerin: Sie leidet an Down-Syndrom. In Staro Sajmiste, einem ehemaligen Konzentrationslager, erinnert sie an die ermordeten behinderten Gefangenen.

"Alle Termine der alternativen Stadtführung sind gut besucht", erzählt Atanackovic. Die Belgrader Touristenorganisation, die das Projekt in ihr Programm aufgenommen hat, hat auch für Übersetzungen ins Englische gesorgt. Noch im Oktober werden Milos Sandzak, Larisa Radjenovic und Sebastian Josimovski von ihrem Belgrad erzählen, dann folgt die Winterpause, und im März geht es wieder los.

Internet: www.drugipogled.com

epd