Bericht zum Gaza-Krieg wird zur politischen Zeitbombe für Israel
Neun Monate nach Ende der Kämpfe tobt der Gaza-Krieg auf politischer Bühne weiter: Der "Goldstone-Report", der Israel schwere Menschenrechtsverletzungen vorwirft, sorgt für Wirbel.
15.10.2009
Von Sara Lemel

Die Debatten über die blutige Offensive mit 1400 palästinensischen Toten dauern an, und Israel hat mit Langzeitschäden an mehreren Fronten zu kämpfen. Die bilateralen Beziehungen mit dem einzigen militärischen Verbündeten in der Region, der Türkei, stehen auf der Kippe. Der Friedensprozess mit den Palästinensern und die indirekten Gespräche mit Syrien liegen auf Eis. Vor allem fürchtet Israel jedoch zerstörerische Auswirkungen des Goldstone-Berichts über den Gaza-Krieg, der dem jüdischen Staat sowie der im Gazastreifen herrschenden Hamas Kriegsverbrechen vorwirft.

Folgt eine Anklage vor dem internationalen Gerichtshof?

Der Bericht des südafrikanischen Menschenrechtlers Richard Goldstone, den Israel zunächst gar nicht richtig ernst genommen hatte, erweist sich inzwischen als gefährliche politische Zeitbombe. Nach einer Kehrtwende der Palästinenserführung in Ramallah hat der UN-Menschenrechtsrat in Genf am Donnerstag begonnen, sich doch noch mit dem Bericht zu befassen. UN-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay stützte den Bericht Goldstones. Sie forderte, dass beide Seiten die Vorgänge, bei denen etwa 1400 Palästinenser umkamen, erneut durch unabhängige Kommissionen untersuchen lassen. Im Namen der Europäischen Union verlangte auch der schwedische UN-Botschafter Hans Dahlgren ein solches Vorgehen.

An diesem Freitag soll eine Resolution verabschiedet werden. Darin wird unter anderem empfohlen, dass der Bericht insgesamt vom Menschenrechtsrat angenommen wird. Israel soll verurteilt werden, weil es eine Zusammenarbeit in der Untersuchung weitgehend verweigert hatte. Das Gremium hatte den Bericht, der in Israel als einseitig und tendenziös zurückgewiesen wird, selbst in Auftrag gegeben. Die Palästinenser hoffen, die Sondersitzung des Menschenrechtsrats könnte der erste Schritt zu einer Anklage israelischer Politiker und Militärs vor dem internationalen Strafgerichtshof in Den Haag sein.

"Diplomatische Lage seit Jahren nicht so schlecht"

Israel hatte von vornherein jegliche Zusammenarbeit mit Goldstones Team zurückgewiesen und auch keine Interviews mit Einwohnern der Gebiete ermöglicht, die von militanten Palästinensern aus dem Gazastreifen ständig mit Raketen angegriffen wurden. Diese mangelnde Zusammenarbeit erwies sich rückblickend als schwerwiegender Fehler, wie auch viele israelische Kommentatoren glauben.

"Aus politischer Sicht sind die Auswirkungen (der Offensive) 'Gegossenes Blei' zerstörerisch", schrieb Sever Plotzker von der Zeitung "Jediot Achronot" am Donnerstag. "Unsere diplomatische Lage war seit Jahren nicht mehr so schlecht wie heute." Der Goldstone-Bericht werde "in den Köpfen der intellektuellen Eliten im Westen und der aufgehetzten Massen in der muslimischen Welt eingebrannt bleiben", schrieb er. Diese "Anklageschrift" werde Israel noch Jahre lang verfolgen. "Dieses Kainsmal lässt sich nicht mehr wegwischen."

Inzwischen hält man es auch in Israel nicht mehr für ausgeschlossen, dass die damalige israelische Führung vor dem internationalen Gerichtshof in Den Haag angeklagt werden könnte. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu betonte während einer Ansprache im Parlament am Montag, er werde in einem solchen Fall weder Soldaten noch die damaligen politischen Entscheidungsträger ausliefern - das ehemalige Dreiergespann Ehud Olmert, Zipi Livni und Ehud Barak.

Auch Menschenrechtler kritisieren Bericht

In Goldstones Bericht wird empfohlen, den Fall an den Strafgerichtshof in Den Haag zu übergeben, sollte Israel die Menschenrechtsverletzungen nicht binnen drei Monaten selbst durch eine unabhängige Kommission untersuchen lassen. In mehr als 20 Fällen werden Vorwürfe bereits von der israelischen Armee selbst untersucht. Doch Menschenrechtsorganisation und westliche Bündnispartner drängen Israel, im Interesse der Glaubwürdigkeit eine unabhängige Untersuchung in die Wege zu leiten.

Israel fühlt sich von dem Goldstone-Bericht zu Unrecht verurteilt. UN-Botschafterin Gabriela Shalev sagte am Mittwoch, der Bericht unterstütze und legitimiere den Terrorismus. Goldstones Untersuchung sei eine "Belohnung für Terrororganisationen". Kritik an dem Bericht kam auch von überraschender Seite: Nach Ansicht der Leiterin der israelischen Menschenrechtsorganisation Betselem, Jessica Montell, hat der UN-Menschenrechtsrat eindeutig eine "unangemessene und unverhältnismäßige Fixierung auf Israel". Sie wies im Gespräch mit der "Jerusalem Post" auch Vorwürfe zurück, Israel habe absichtlich auf palästinensische Zivilisten abgezielt. Überdies sei zu bemängeln, dass der Goldstone-Bericht den Missbrauch der Zivilbevölkerung im Gazastreifen durch Hamas-Kämpfer nur "auf schwache und zögerliche Weise" verurteile.


Stichwort UN-Menschenrechtsrat: Das Gremium existiert seit Juni 2006. Ihm gehören 47 Länder an, die von der UN-Generalversammlung gewählt werden. Der Menschenrechtsrat löste die UN-Menschenrechtskommission ab, die als ineffektiv kritisiert wurde, weil dort auch zahlreiche Staaten mit fragwürdiger Menschenrechtsbilanz vertreten waren und sich gegenseitig schützen konnten. Jedoch kann auch für den Menschenrechtsrat jedes UNO-Mitglied kandidieren. Gewählt werden die Mitglieder von der Vollversammlung; derzeit gehören etwa China, Kuba und Saudi-Arabien dem Gremium an. Kritiker sehen die Entscheidungen des Rates deshalb weiterhin als eher politisch denn aus echter Sorge um die Durchsetzung der Menschenrechte motiviert an.

dpa/ups