Protestantische Motive: "Das weiße Band"
Im neuen Film des österreichischen Regisseurs Michael Haneke spielt ein Pfarrer die zentrale Rolle. Und es ist keine sympathische. Über die protestantischen Motive in der Dorfgeschichte "Das weiße Band".
14.10.2009
Von Margrit Frölich

"Wie Gewalt entsteht und wo sie hinführen kann" (Heinrich Böll) – darum geht es in "Das weiße Band". Mit messerscharfem Blick seziert Regisseur Michael Haneke die Mechanismen, die Gewalt hervorbringen und von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden. Schauplatz ist ein Dorf im protestantischen Norden Deutschlands, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Hier ereignen sich unerklärliche Vorfälle, die in der Misshandlung eines behinderten Kindes gipfeln. Niemand will die Verantwortung dafür übernehmen. Klar ist nur, dass die Schuldigen in der Dorfgemeinschaft zu suchen sind.

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Unter den Autoritäten des Dorfes (Baron, Arzt, Gutsverwalter, Lehrer) spielt die Figur des Pfarrers eine wichtige Rolle. Den Zuständen im protestantischen Pfarrhaus, das im Geiste des wilhelminischen Zeitalters steht, widmet der Film viel Aufmerksamkeit. In einer Szene betritt der jüngste Sohn des Pfarrers das Arbeitszimmer, wo der Vater (Burghart Klaußner) hinter einem mächtigen Schreibtisch thront. Die Holzdielen knirschen unter den Schritten des Jungen. In der Hand hält er einen verletzten Vogel. Er bittet den Vater, den Vogel gesund pflegen zu dürfen. Instinktiv will dieser den Wunsch ablehnen. Seine Begründung überrascht: Er möchte dem Sohn den Trennungsschmerz ersparen, wenn er den Vogel wieder freilassen muss. Erst nachdem der Junge sich dazu bereiterklärt, darf er den Vogel in seine Obhut nehmen.

Emotionale Bindung

Diese Szene ist bemerkenswert, weil sie zeigt, wie gut der Pfarrer sich in Fragen emotionaler Bindung auskennt. Und weil man ahnt, dass in einem entlegenen Winkel seines Bewusstseins der Gedanke eines freiheitlichen Lebens schlummert. Was ihn jedoch nicht daran hindert, in seinem Haus ein Regiment zu führen, das dem biblischen Spruch folgt: "Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er; er schlägt mit der Rute jeden Sohn, den er gern hat."


Der Pfarrer ist ein strenger, doch auch fürsorglicher Vater, dem die Unzulänglichkeit seiner Sprösslinge zu schaffen macht. Die Tücke seines Regimes besteht genau in dieser Ambivalenz. Im irdischen Reich – so haben Generationen von Theologen bis 1945 Martin Luthers Zwei-Reiche-Lehre interpretiert – dürfen im Gegensatz zum Reich Gottes durchaus Zwang, Gesetz und Gewalt regieren. Die Pfarrerskinder werden geprügelt; es wird ihnen ein weißes Band an den Arm oder ins Haar gebunden, das sie an Reinheit und Unschuld gemahnen soll. Einmal kommen sie verspätet nach Hause. Als die Familie beim Essen sitzt und alle schweigend ihre Suppe in sich hineinlöffeln, durchbricht der Vater die beklemmende Stille mit einer Äußerung, deren seltsame Logik verblüfft. Er und die Mutter wüssten nicht, was sie mehr schmerzt: dass die Kinder nicht nach Hause gekommen sind oder dass sie dann doch wieder aufgetaucht sind. Der Grund: es mache ihn traurig, seine Kinder bestrafen zu müssen.

Trauriger Despot

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Der traurige Despot, der uns hier in Gestalt des Pfarrers begegnet, repräsentiert einen Typus, den der französische Philosoph Michel Foucault als christliche Pastoralmacht beschrieben hat. Damit meinte er einen Machttypus, der in der Beziehung zwischen "gutem Hirten" und seiner "Herde" symbolisiert wird. Jedes Individuum bedarf dieser Weltsicht zufolge zeit seines Lebens einer Lenkung durch jemanden, zu dem es in einem umfassenden Gehorsamsverhältnis steht. Auf diese Weise, so Foucault, lässt sich eine Gesellschaft regierbar machen, bis in die Psyche der Individuen hinein. Der Pfarrer ist Repräsentant einer Gesellschaft, die Macht produziert. Der Bodensatz dieser repressiven Ordnung birgt jedoch eine Gewalt, die, wenn sie sich entlädt, in ihrer Grausamkeit nicht zu überbieten ist. Einen kleinen Eindruck davon bekommt man, als die älteste Pfarrerstochter den Wellensittich ihres Vaters mit einer Schere durchbohrt und das tote Tier wie gekreuzigt auf den Schreibtisch legt. Welch verheerende Folgen es hat, wenn sich Gehorsam mit staatlichem Obrigkeitsdenken und Nationalismus verbindet, hat der Zivilisationsbruch im Nationalsozialismus gezeigt.

Das weiße Band beschreibt eine Generation, "die dem Faschismus entgegentreibt", sagt Haneke. Der Regisseur möchte aber nicht, "dass man den Film auf den Faschismus reduziert. Sobald jemand ein Prinzip, eine Ideologie oder eine Religion verabsolutiert, wird es automatisch unmenschlich." Das weiße Band ist ein Lehrstück, in dem der Protestantismus als exemplarisches Beispiel und die historische Epoche als Folie dient, um den Zusammenhang von Macht, Zwang und Gewalt zu ergründen.

"Das weiße Band" wurde von der Jury der Evangelischen Filmarbeit zum "Film des Monats" gewählt.


Margrit Frölich ist Leiterin der Arnoldshainer Filmgespräche