Länder-Koalitionen: Aufbruch aus der alten Farbenlehre
Jamaika im Saarland, Rot-Rot in Brandenburg: Mit diesen (Vor-)Entscheidungen wird die Koalitionslandschaft bunter. Ein Gewinn für die Demokratie in Deutschland.
13.10.2009
Von Ulrich Pontes

Am Sonntag sorgten die saarländischen Grünen für Diskussionsstoff: Sie beschlossen, statt mit SPD und Linken lieber mit Union und FDP Koalitionsverhandlungen zu beginnen und damit voraussichtlich das erste "Jamaika"-Bündnis in der deutschen Politik zu wagen. Am Montag folgte der Paukenschlag in Brandenburg: Die SPD, die dort seit Jahren mit der CDU regiert hat, will nun für die kommende Legislaturperiode auf Rot-Rot setzen. Auch das ist mehr oder weniger einzigartig: Die Option einer Kooperation von Sozialdemokraten und Linkspartei löste zuletzt zwar viele Hoffnungen auf Landesebene (Saarland, Hessen) aus und ebenso viele Beteuerungen der SPD, auf Bundesebene komme so etwas nicht in Frage, vorerst jedenfalls. Tatsächlich regiert aber außerhalb des Stadtstaats und Sonderfalls Berlin nirgends Rot-Rot.

Koalition als Patchworkfamilie?

Vergrätzte Reaktionen auf diese Entscheidungen gibt es viele - natürlich vor allem von den jeweils verschmähten Partnern, die sich Hoffnung auf eine Regierungsbeteiligung gemacht hatten. "Wer nach allen Seiten offen ist, ist letztlich nicht ganz dicht", lästerte etwa Linken-Geschäftsführer Dietmar Bartsch mit Blick auf die Grünen im Saarland - und so mancher Unionsvertreter mag ihm hinsichtlich der brandenburgischen SPD insgeheim beipflichten. Aber derartige rhetorische Klatschen sind bestenfalls billige Polemik. Schlimmstenfalls zeugen sie von einem Lagerdenken, das spätestens seit dem Erstarken der Linkspartei im Westen an der Realität vorbeigeht.

Näher an der Wirklichkeit des neuen deutschen Fünf-Parteien-Systems liegt da schon der künftige SPD-Chef: Es zeige sich, dass "auch in der Politik die stabile Ehe von Patchworkfamilien abgelöst" werde, sagte Sigmar Gabriel. Auch Patchworkfamilien sind keine flüchtigen Affären; die neuen bunten Koalitionen stehen - soweit das nach den Sondierungsgesprächen absehbar ist - auf brauchbarem Fundament. Entscheidend ist, dass sich die Partner in entscheidenden Punkten einig sind, miteinander können und miteinander wollen. Und dass jeder der Beteiligten mit sich selbst im Reinen ist - damit nicht der Kopf "Ja" sagt, der Bauch (oder die Parteibasis) aber innerlich "Nein" schreit. Dass die Übereinstimmungen höher eingeschätzt werden als manche Macke oder frühere Verfehlung des Partners, geht in Ordnung; dass nicht jeder Außenstehende oder gar der verschmähte Liebhaber begeistert ist, gehört dazu.

Ehe-Ideal galt noch nie für die Politik

Allerdings führt Gabriels Vergleich alle diejenigen in die Irre, die weiterhin die stabile Ehe als bestmögliche Option und die Patchworkfamilie nur als pragmatischen Ausweg aus schwierigen Situationen betrachten. Denn auf die Politik übertragen, macht das christliche Familienideal keinen Sinn: Zweier-Koalitionen, in denen die Partner dauerhaft zusammenwachsen und einander immer ähnlicher werden, waren noch nie erstrebenswert. Und Bündnisse mit mehr als zwei Partnern oder über die vermeintliche Lagergrenze zwischen Links und Rechts hinweg sind mehr als eine Notlösung.

Wenn vor einer Wahl die realistischen Machtoptionen nicht mehr zusammenschnurren auf eine Alternative à la "Links" vs. "Rechts" (oder, wie bei der jüngsten Bundestagswahl durch die Vorfestlegungen der Parteien, "bürgerliche" vs. große Koalition), eröffnet das neuen Raum für politische Inhalte. Die Versuchung, aus Koalitionstaktik statt aus Überzeugung sein Kreuz zu setzen, wird geringer; dafür wächst die Chance, dass der Wähler in einem wachsenden Portfolio verschiedener politischer Programme und Personaltableaus eins findet, mit dem er sich identifizieren kann, dem er durch seine Stimme mehr Gewicht verleihen möchte - egal welche Bündnis-Konstellation nach der Wahl entsteht. Die Parteien fordert das im Umkehrschluss, sich durch Inhalte und Schwerpunktsetzungen zu profilieren, statt im Wahlkampf vor allem Koalitionsaussagen und prinzipielle Argumente ("Große Koalitionen sind auf Dauer schlecht für die Demokratie") vor sich her zu tragen.

Experimente können scheitern - oder gelingen

Es ist also zu begrüßen, wenn Brandenburg und das Saarland die Koalitionslandschaft künftig um zwei Farbkombinationen bereichern. Es mag sich um "Experimente" handeln, wie von vielen betont wird - daran ist nichts Schlechtes. Erkenntnisgewinn setzt immer auch Wagnis voraus. Der oft so anstrengende und schwer zu vermittelnde deutsche Föderalismus wird dadurch zum Labor, das Koalitionen einem Belastungstest unterzieht, die künftig vielleicht auch im Bund zum Bündnis der Wahl werden könnten. Ob diese "Experimente" Rot-Rot und Jamaika das erwünschte Ergebnis bringen, erfährt man nur, wenn man das Risiko eingeht - entscheiden darüber muss man anhand der Resultate, und das werden die Wähler auch tun.


Ulrich Pontes ist Politik-Redakteur bei evangelisch.de und interessiert sich seit langem für eine christliche Perspektive auf gesellschaftliche Fragen, die auf den ersten Blick mit Glaube und Religion nichts zu tun haben. Als studiertem Physiker sind ihm Experimente nichts Fremdes.