Opfer in Deutschland: Wo bleibt die Hilfe?
Wer in Deutschland Opfer eines Kapitalverbrechens wird, ist oft zweimal gestraft: Das Opfer leidet nicht nur unter der Tat, sondern muss in vielen Fällen um sein Recht kämpfen - gegen den Staat. Wie der Behördenmarathon zermürben kann, zeigt der Fall einer 41-jährigen Frau, deren Freund sie fast getötet hätte.

Jedes Jahr kurz vor dem 2. August hängt Anja Schulze alle Uhren in ihrer Wohnung zu. "Schon die Tage vorher sind furchtbar. Ich kann nicht essen, nicht schlafen, nicht klar denken." Erst wenn die Mittagszeit vorbei ist, kann sie aufhören, ihre Gedanken um den 2. August 2000 kreisen zu lassen. An diesem Mittwoch liegt Anja Schulze kurz nach 13 Uhr inmitten einer riesigen Blutlache in ihrer Küche in Schiffdorf nahe Cuxhaven. Sie droht zu sterben. Ihr Ex-Freund sticht wie von Sinnen mit einem Messer auf sie ein, vor den Augen ihrer beiden kleinen Kinder. "Zwei Nachbarinnen haben mich schreien gehört. Die sind hochgerannt und haben ihn von mir runter gezogen", erzählt Anja Schulze.

Der Arzt wird später 34 Einstiche zählen. Anja Schulze überlebt, nach Wochen im Koma. Sie muss erst wieder laufen lernen. Ihre Hände und Arme sind derart zerstochen, dass sie keinen Stift mehr halten, geschweige denn ihre beiden Kleinen tragen kann, die damals noch in Windeln durch die Wohnung düsen. "Ich konnte sie nicht wickeln, nicht füttern, nicht auf den Arm nehmen und trösten, wenn sie hingefallen waren", erzählt Anja Schulze ganz nüchtern. Zu Weihnachten wünscht sich ihr Sohn später kein Playmobil-Haus, sondern nur, "dass Mama mich einmal ins Bett trägt".

Opfer musste Tatort selbst reinigen

Der Täter wird sofort gefasst, kommt in Haft. Er wird begutachtet, bekommt im Gefängnis dreimal am Tag Essen serviert. Und die Opfer? Tagsüber kommt am Anfang eine Haushaltshilfe, stundenweise. Nachts müssen Anjas Eltern ran, beide längst über 70, um die Kleinen zu versorgen. "Was glauben Sie, wer beispielsweise für die Reinigung der Tatorte in Deutschland zuständig ist?" fragt Anja Schulze. "Die Opfer selbst oder ihre Angehörigen. Meine Nichten haben meine Küche geputzt, von literweise Blut und diversen Fleischstücken befreit."

Dann beginnt der Behördenmarathon, über den Anja Schulze heute sagt: "Sie wissen nicht, was schlimmer ist: Die Tat oder das, was danach kommt. Was der Täter nicht schafft, das schaffen die Ämter." Die 41-Jährige bemüht sich darum, Opferhilfe vom Staat zu bekommen, denn sie ist körperlich nicht mehr in der Lage zu arbeiten. Weil sie keinen Stift mehr halten kann, unterschreibt ihr Vater den Antrag. Doch das wird nicht anerkannt, weil sie ihm keine schriftliche Vollmacht erteilen kann. Ihre Entmündigung wird erwogen, um die Behördenvorgaben zu erfüllen, bis ein Richter doch noch Einsehen hat.

Dann folgen Gutachter auf Gutachter. Das Gericht zweifelt die Anzahl der Stichverletzungen an, später dann deren Tiefe. 13 Untersuchungen muss sie über sich ergehen lassen, bis sie nach neun Jahren endlich alle Anträge durch hat. "Da werden Sie mit einer überdimensionalen Lupe untersucht. Und zwar in der Rechtsmedizin und Sie denken: Eigentlich hätte ich jetzt auch nebenan liegen können, mit einem Zettel am Zeh."

Opfer bittet bei Supermärkten um Gemüse

Das Geld wird knapp, es ist eine entwürdigende Zeit. Anja Schulze bittet bei Supermärkten um Gemüse, das sonst in die Tonne geworfen wird. Und immer wieder gibt es absurde Situationen, bei denen sie nicht weiß, ob sie weinen oder hysterisch lachen soll. Da ist die Frau im Schwimmbad, die ihren Narbenkörper angafft und deswegen gegen eine Wand rennt. "Dabei hat sie sich die Nase gebrochen." Oder ihre Anwältin, die in einem Schriftsatz an den Täter aus Gedankenlosigkeit auch die komplette Adresse ihrer Mandantin mit durchschreibt. Anja Schulze sucht umgehend eine neue Bleibe.

Warum ihr Ex-Freund sie umbringen wollte, weiß sie bis heute nicht. "Er war nicht alkoholisiert, er stand nicht unter Drogen. Warum er mich ermorden wollte, wusste er wohl selber nicht." Seit einiger Zeit kann sie wieder arbeiten; sie genießt es. Ihr Leben und das ihrer Kinder versucht sie mit großem Aufwand zu schützen, denn die Angst vor dem Täter lässt sie nicht los. "Der schickt jetzt nach neun Jahren irgendwelche Geburtstagskärtchen und will Besuchsrecht für die Kinder." Schon fünf Minuten Trödelei auf dem Heimweg von der Schule versetzen sie in Panik.

Wer Anja Schulze heute auf der Straße trifft, sieht ihr nicht an, wie sehr die Tat vom 2. August 2000 ihr Leben immer noch dominiert. Er trifft auf eine herzliche, resolute Frau, die über eine gehörige Portion schwarzen Humor verfügt. Die 41-Jährige engagiert sich in der Deutschen Allianz Kapitalverbrechen. Der Verein berät Menschen, die angegriffen oder deren Angehörige umgebracht wurden. Auswandern, irgendwo ganz neu beginnen, ist das eine Alternative? Nein, sagt sie. "Ich kann sonstwo hingehen, nach Finnland, nach Timbuktu - meine Geschichte nehme ich immer mit."

Die Diskussion zum Thema: Zivilcourage.

dpa