Steinzeitliche Grabstätte gibt Archäologen Rätsel auf
Über das Leben vor 7.000 Jahren und die Alltagskultur ist nur wenig bekannt. Die einzigen Zeugnisse liegen unter der Erde, was sie genau bedeuten, darüber können auch die Historiker nur spekulieren. Wir blicken heute mit einem von unserer Zeit geprägten Blick auf prähistorische Ereignisse - was damals genau passierte und wie die Menschen lebten, lässt sich nur vermuten. Darum bietet jeder Fund eine neue Perspektive. So wie in Herxheim, wo Archäologen noch immer an einer großen Grabstätte rätseln.

Ineinandergestapelt liegen die Schädeldecken da. Mit dem Steinbeil wurden sie vorsichtig entlang der Hutkrempenlinie abgetrennt. Daneben befinden sich menschliche Skelettteile. Fein säuberlich wurden die Leichname zerlegt, Köpfe und alle Gliedmaßen von den Körpern entfernt. Viele der Knochen sind zertrümmert. Die systematisch zerteilten Überreste von rund 500 Leichen aus der Jungsteinzeit, die 1996 bei Erdarbeiten im südpfälzischen Herxheim entdeckt wurden, geben den Forschern noch heute Rätsel auf.

"Es gab ein unbekanntes Ritual der geordneten Zerstörung", sagt Archäologin Andrea Zeeb-Lanz von der Archäologischen Denkmalpflege Speyer. Je genauer die Wissenschaftler die Funde betrachteten, desto mehr Fragen ergäben sich. Soviel weiß man: Die zerschlagenen Menschenknochen und Beigaben wurden vor rund 7.000 Jahren in Langgruben vergraben, die trapezförmig um ein Dorf herum angelegt waren.

"Doch die Motive, weshalb die Toten nach Herxheim gebracht und dort niedergelegt wurden, werden wir nie vollständig ergründen", glaubt die Archäologin. Sie leitet eine internationale Gruppe von 13 Experten zur Untersuchung der Funde. Diese Form der "Niederlegung" von Leichen sei einmalig für die Jungsteinzeit, und auch aus anderen Kulturen sei ein derartiger Ritus unbekannt.

Ein archäologischer Krimi

Die Interpretation der Funde von Herxheim hat sich in den vergangenen Jahren grundlegend geändert. Zunächst seien die Forscher von einem blutigen Massaker ausgegangen, sagt Zeeb-Lanz. Doch nirgends waren Spuren eines ungeordneten Kampfes zu finden. Für diese Epoche, als die Kontrahenten mit Steinbeilen aufeinander losgingen, waren bei Kämpfen tödliche Kopfverletzungen typisch. Aber solche fanden die Forscher nicht.

Wie ein Krimi stellt sich der archäologische Befund dar: Demnach wurden die Toten innerhalb eines kurzen Zeitraums gegen Ende der Periode der Bandkeramik beerdigt, zwischen 5.000 und 4.950 vor Christus. Zuvor wurden die Leichen - Männer, Frauen und auch Kinder - mit der handwerklichen Präzision eines Metzgers zerlegt: Das Fleisch wurde von den Knochen geschabt, markreiche Knochen zerschlagen. Das könne ein Indiz für Kannibalismus als Teil einer Zeremonie sein, "das ist aber nicht beweisbar", sagt die Archäologin.

Die Menschen kamen teilweise aus einer Entfernung von mehr als 400 Kilometern in das nur rund 100 Einwohner zählende Steinzeitdorf. Die Kultur der Bandkeramik, benannt nach den typischen Verzierungen der Gebrauchsgefäße, war rund 650 Jahre lang vom Pariser Becken bis in die Ukraine über ganz Mitteleuropa verbreitet. In den Herxheimer Gruben wurden neun verschiedene bandkeramische Regionalstile identifiziert, darunter aus dem entfernten Elbe-Saale-Gebiet, erzählt Zeeb-Lanz. Unterschiedliche Feuersteine und Muscheln ließen zudem auf weit verzweigte Handelsbeziehungen schließen.

Ein "quasi-religiöses" Ritual?

Andrea Zeeb-Lanz hat ihre ganz eigenen Vorstellungen davon, was sich in dunkler Vorzeit in der beschaulichen pfälzischen Provinz zugetragen haben könnte. Es habe sich möglicherweise um ein quasi-religiöses Ritual gehandelt, bei dem es darum gegangen sei, "den menschlichen Körper zu transformieren". Oder aber, und da wird die Archäologin ganz spekulativ, der Ritus habe mit dem plötzlichen Ende und spurlosen Verschwinden der Kultur der Bandkeramik im Zusammenhang gestanden.

Denkbar sei, dass verschiedene Gemeinschaften sich in Herxheim trafen, um eine wie auch immer geartete Krise abzuwenden. Dafür spreche auch, dass schönste Keramik und wertvolle Werkzeuge unbrauchbar gemacht wurden - vielleicht um die Hilfe der Götter zu erlangen. Und möglicherweise hätten die Jungsteinzeitmenschen "das Beste, was man hat" dafür geopfert: ihre Mitmenschen.

Die Knochenfunde sind heute in einer Dauerausstellung im Heimatmuseum der Gemeinde Herxheim zu sehen. Und noch längst nicht alles wurde entdeckt, glauben die Wissenschaftler: In der nur zur Hälfte freigelegten Herxheimer Anlage könnten die Überreste von insgesamt rund 1.000 Toten unter der Erde liegen. Die Schlussdokumentation der archäologischen Forschung ist für 2012 vorgesehen. Einen großen Wunsch hat Andrea Zeeb-Lanz: Ein Teil des Herxheimer Grabungsortes sollte zum Freilichtmuseum werden, "Tage der offenen Grabung" inklusive.

epd