In vielen Städten Deutschlands versorgen "Tafelläden" Bedürftige mit Lebensmitteln, die von Supermärkten, Großmärkten, Bäckereien oder Hotels gespendet und von ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern ausgegeben werden. Lebensmittel, deren Mindesthaltbarkeitsdatum naht, einwandfreies Gemüse, das gleichwohl frischerer Ware weichen muss, Angebote vom Vormonat, die das neue Sortiment verdrängt, Backwaren vomVortag – dies alles hilft bedürftigen Menschen. Und dies alles erreicht sie nur, weil fast 40000 Ehrenamtliche in rund 800 Tafeln unentgeltlich und verlässlich im Einsatz sind, um rund eine Million Menschen zu versorgen.
[linkbox:nid=3530;title=Stefan Selkes Kritik an den Tafeln]
Seit 1996 gibt es auch in meiner Heimatstadt die "Neusser Tafel" mit gut dreißig Helferinnen und Helfern, dem "Tafelladen", drei "Tafelmobilen", einem Treff für Ältere und zahlreichen Einsätzen in Kinder- und Jugendeinrichtungen sowie in Schulen. Manche Helferin und mancher Helfer sind von Anfang an dabei. Ihr beharrlicher Einsatz beeindruckt mich.
Da lässt es mich aufhorchen, wenn der Soziologe Stefan Selke erklärt, die Tafelbewegung verfestige Armut. Die politische Folge: "die legitimen Ansprüche von Armutsbetroffenen auf staatliche Hilfe" nähmen ab. Hilfe mit ungewollter Nebenwirkung, entmündigende Fürsorge gar? Ich denke, die kritischen Anfragen von Selke müssen ernst genommen werden, zumal seine Studie auf einer einjährigen Mitarbeit in einer Tafel beruht. Dennoch widerspreche ich seiner zentralen These.
Gegen das Auseinanderdriften von Arm und Reich
Gerade in meinen zahlreichen Gesprächen mit Aktiven der "Neusser Tafel" oder im eigenen Engagement in der heimischen Diakonie ist meine Überzeugung gewachsen, dass die Armut in unserem Land nicht nur mit Rechtsansprüchen auf staatliche Leistungen bekämpft werden kann – so notwendig diese als Grundlage bleiben. Neben finanzieller bedarf es häufig auch menschlicher Zuwendungen, die über professionelle Beratungsgespräche in akuten Notlagen hinausgehen. In "Tafelläden" sind solche Begegnungen möglich. Da gibt es nicht nur Lebensmittel so gut wie umsonst, sondern auch Kochtipps – besonders nützlich dann, wenn das Geld nicht reicht, weil wegen mangelnder Kochkenntnisse Fast Food und Tiefkühlpizza den Speiseplan der Familie bestimmen. Kinder, denen ein knurrender Magen das Aufpassen in der Schule erschwert, die aber Handy und MP3-Player ihr eigen nennen, brauchen mehr als die jetzt für ältere Kinder erhöhten Hartz-IV-Regelsätze.
Gewiss: Das Tafelprinzip darf nicht dazu führen, dass der Sozialstaat Gebotenes unterlässt. Dass aber erst ein Verzicht auf die Nahrungsmittelhilfen der Tafeln und die damit verbundene wachsende Not der Betroffenen diese zum deutlichen Protest und den Sozialstaat zum Handeln zwingen würden, halte ich für ein Zerrbild unseres sozialen Netzes. Selbsthilfegruppen, Wohlfahrtsverbände und auch unsere Gerichte wachen zu Recht über die Ansprüche Bedürftiger. Dazu gehören auch die vielen Aktiven bei den Tafeln. Für sie haben die Bedürftigen Namen und Gesichter, sind sie keine statistische Größe.
In ihrem Einsatz überwinden sie gesellschaftliche Barrieren, widersetzen sich dem Auseinanderdriften von Arm und Reich in unserer Gesellschaft. Häufig engagieren sie sich für die Rechte der Bedürftigen, fordern etwa eine verbesserte Schuldnerberatung oder weisen Betroffene überhaupt erst auf derartige Angebote hin. Ein starker Sozialstaat braucht nicht nur ausreichende Steuereinnahmen, sondern auch solche Bereitschaft, Zeit und Fähigkeiten verlässlich einzubringen. Gut, dass es solches Engagement gibt.
Der Autor Hermann Gröhe ist Bundestagsabgeordneter (auch noch nach den jüngsten Wahlen), Staatsminister bei der Bundeskanzlerin und Herausgeber des Magazins chrismon. Seine Entgegnung auf Stefan Selkes Kritik an den Tafeln erschien in der chrismon-Ausgabe 4/2009.