Störungen im Betriebsablauf (Folge 2)
Unsere Kolumnistin Ursula Ott ist viel unterwegs. Meistens mit der Bahn. Und da meistens im ICE. Über das, was ihr dort passiert, was sie hört und sieht, schreibt sie. Und nein, es ist nicht immer die Bahn schuld.
01.10.2009
Von Ursula Ott

Meine Woche vom 27. September bis 2. Oktober

Montag

Der Morgen danach, nach der Bundestagswahl, ist auch im Zug ein besonderer Morgen. Auf dem Weg zum Bahnhof, am Rheinufer entlang, fahre ich mit dem Rad an Wahlplakaten vorbei, auf denen noch alles möglich schien: Reichtum für alle. Arbeit muss sich wieder lohnen. Wir haben die Kraft. Und jetzt, auf den Morgenzeitungen am Bahnhofskiosk, die Wahrheit. Wir haben die Kraft, das Versprechen der CDU, stimmt nicht ganz: Die Kraft hat sie nur mit der FDP zusammen. Und mit dem Reichtum für alle wird es erst mal nichts. Heute lesen im ICE wirklich alle die Zeitung, die Laptops bleiben ausgeschaltet, spannender Tag.

Dienstag

Geht's noch blöder? "Merkels Neuer" hatte gestern schon die Bildzeitung getitelt, heute ziehen auch seriöse Zeitungen nach mit Liebes-Lyrik für die neue Koalition. "Zu mir oder zu dir?" fragt die Süddeutsche, und man fragt sich schon: Fällt den lieben Kollegen beim Anblick einer gestandenen verheirateten Karrierefrau und einem homosexuellen Minister nichts anderes ein als verliebt-verlobt-verheiratet? Wenn das so weiter geht, können Merkel und Westerwelle bald ein Hochzeitsbuch auf evangelisch.de einrichten. Schon beim ohnehin schaurigen Wahlduell zwischen Steinmeier und Merkel mussten die beiden nur den leisesten Eindruck von Einigkeit verbreiten – zum Beispiel zu den Themen Opel und Afghanistan – da krähte die besonders huiuiui freche Journalisten Maybritt Illner schon: "Sie wirken ja wie ein altes Ehepaar". Liebe Kolleginnen und Kollegen: Je mehr Frauen zum Glück in der Politik sind, desto häufiger werden sie mit Männern zusammen agieren. Nein, die sind nicht alle gleich ein "Ehepaar". Und besonders erotisch wirkt das auch nicht, warum sollte es auch. Was habt ihr alle nur für komische Ehen?

Mittwoch

Langsam wieder Normalität im ICE. Auf dem Weg zum Bahnhof zwar immer noch Wahlplakate, übrigens auch von der Kommunalwahl in Köln. Die ist zwar schon vier Wochen her, aber Köln ist bekanntlich eine Stadt, deren Etat für Abfallbeseitigung zwar sehr hoch ist, aber in den letzten Jahren regelmäßig in eine kölsche Müllmafia investiert worden ist. Keine Ahnung, was die Abfallbetriebe so alles machen mit der Grundsteuer, die automatisch von meinem Girokonto abgebucht wird. Wahlplakate wegräumen gehört offenbar nicht dazu. Im ICE nimmt die Zeitungsdichte wieder ab, die Wahl ist ja jetzt endgültig gelaufen. Der eine oder andere liest sogar ein Buch. "Verblendung", der Krimi von Stig Larsson, ist eindeutig das Buch, das ich am häufigsten sehe im Großraumwagen. Die Geschichte von Lisbeth Salander, jener gepiercten rotzfrechen Hackerin und Ermittlerin im schwedischen Nazi- und Geheimdienst-Sumpf. Läuft ab heute auch im Kino. Und ist so spannend, dass ich neulich fast den Bahnhof Köln verpasst hätte. Und in Düsseldorf möchte man nicht stranden, noch nicht mal "verblendet".

Donnerstag

Vielleicht sollten Politiker öfter mal Zug fahren. Dann wüssten sie, wie es sich anfühlt, wenn man permanent Angst um seinen Arbeitsplatz hat. Und würden jetzt, am Tag 4 nach der Wahl, nicht immer noch von "Schockstarre" reden, wenn sie aus dem Bundestag gewählt worden sind. Im ICE gibt es nämlich ganz oft solche Gespräche, die anfangen mit, "das hätte uns vor zwei Jahren noch keiner geglaubt". Keiner geglaubt, dass die Firma an die Amis verkauft wird. Keiner geglaubt, dass Karstadt dicht macht. Keiner geglaubt, dass Übernachtung im Hotel jetzt nicht mehr drin ist, dass man eben morgens früh im Zug zu einem Kongress fährt und nachts spät zurück. "Wie lange gilt denn so eine Bahncard?", fragte mich neulich ein Sitznachbar im Zug. Ein Jahr. "So lange plant mein Arbeitgeber gar nicht", sagte er verbittert, "ob es uns in einem Jahr noch gibt, weiß doch keiner."

Freitag

Im ICE von Frankfurt nach Köln sitzen ein paar Manager, die von Kopf bis Wade noch nach Banker aussehen, mit blauem Anzug und Krawatte. An den Füßen aber schon Laufschuhe tragen – es ist Marathonwochenende in Köln. Trotz Krise boomt der "Ford-Marathon", nur wenige Sponsoren sind abgesprungen, über 32.000 Läufer, das ist ein neuer Rekord. Mir fällt der Obdachlose ein, den ich neulich am Frankfurter Hauptbahnhof gesehen habe, mit dem "Finisher"-Trikot des JP Morgan Laufs in Frankfurt. Auch ein Lauf-Event, bei dem traditionell die Banken und Versicherungen durch die Hochhaus-Schluchten traben – und übrigens auch ein kleines Team vom Gemeinschaftswerk der evangelischen Publizistik. "Im Namen des Herrn", logo. Am Ziel gibt es ein aggressiv hässliches Shirt in giftgrün, das ich als lahme Ente dennoch stolz trage, wenn ich abends am Main oder Rhein entlang jogge. Für die alerten Banker ist es wahrscheinlich nicht schick genug. Ob einer sein Finisher-Shirt dem Penner geschenkt hat oder der es im Abfalleimer am Bahngleis gefunden hat, ich weiß es nicht. Und überlege: Wenn statt der Frankfurter Banker mal alle durch die Stadt laufen würden, die von der Krise aus dem System gespült worden sind – wie viele das wohl wären? Kein Finisher-Lauf, sondern ein Lauf der Finisheden – das wäre eine Idee. Müsste ich mal der Diakonie vorschlagen. Aber erst nächste Woche.


Über die Autorin:

Ursula Ott, 45, ist stellvertretende Chefredakteurin von chrismon, Chefredakteurin von evangelisch.de, Mutter von zwei Kindern und pendelt täglich zwischen Köln und Frankfurt. www.ursulaott.de