Zum Ende des Gottesdienstes bittet die Predigerin Gong Meishan (*) die Gemeinde der Chongwenmen-Kirche in Peking aufzustehen. "Wir beten für unser Land zum 60. Jubiläum", sagt die 69-Jährige mit der feinen grauen Bluse und den streng zurückgekämmten Haaren. "Und wir danken für unsere vollen Kirchen, denn während der Kulturrevolution war es einmal anders." Die rund 400 Protestanten antworten mit einem kräftigen Amen und stimmen "Wir kommen heute vor Gottes Thron" an. Ein Pfarrer schrieb das Lied zur Wiedereröffnung der Kirchen in China in den 1980er Jahren, sagt Gong und reibt sich über die Augen.
Am 1. Oktober feiert die kommunistische Führung in Peking die Gründung der Volksrepublik vor 60 Jahren. Die Protestanten im Land blicken auf bewegte Jahrzehnte zurück. Nach der Revolution von 1949 wurden ausländische Geistliche verhaftet und vertrieben. Protestanten durften sich seit den 50er Jahren nur noch der "Patriotischen Drei-Selbst-Bewegung" anschließen, die unter Aufsicht von Staat und Partei steht. Drei-Selbst steht für Selbstverwaltung, Selbstfinanzierung und Selbstmissionierung.
Mao ließ alle religiösen Stätten schließen
Mit Beginn der Kulturrevolution 1966 ließ Mao Tse-tung alle religiösen Stätten in China schließen und ihre Anhänger verfolgen. Manche Christen gaben ihren Glauben öffentlich auf, aber trafen sich weiter in kleinen Hauskreisen. Nach Wiedereröffnung der Gotteshäuser Anfang der 80er Jahre stieg die Zahl der Protestanten bis heute auf 30 bis 50 Millionen an. Die evangelische Glaubensgemeinschaft ist die am schnellsten wachsende Religion in China.
Predigerin Gong erinnert sich noch gut an die Angst unter den Gläubigen. Die Bilder von weggezerrten Christen und zerrissenen Bibeln in der Kulturrevolution kann sie nicht vergessen. Aus einer christlichen Familie stammend, hatte sie schon in der Schule das Bekenntnis zum Atheismus verweigert. Den Satz "Es gibt kein höheres Wesen" in der sozialistischen Internationale sang sie nicht mit. Der Lehrer sah darüber hinweg. Als Arbeiterin in der Fabrik wäre sie wegen ihres Glaubens mehrmals fast ins Gefängnis gekommen. "Gott half mir immer auf wunderbare Weise", sagt Gong. "Später habe ich dennoch meinen Glauben versteckt, dafür schäme ich mich noch heute."
Die Erfahrungen während der Kulturrevolution treiben auch die 73-jährige Predigerin Li Ping (*) der Gangwashi-Gemeinde in Peking um. Als Rote Garden das gemietete Zimmer der Familie in Peking nach "bürgerlichem Besitz" durchsuchten, hatte die Mutter den Bruder schon gebeten, die Bibel in einzelne Seiten zu zerreißen. Unter Kleiderschichten und später zwischen den Umschlägen eines Russisch-Wörterbuches blieben die Blätter unentdeckt.
"Gnade des Wiederaufblühens"
Die Wohnung der Mutter wurde zum Hort der Hoffnung für viele christliche Kollegen. Beim Singen geistlicher Lieder stellten sie das Radio ganz laut, um draußen nicht verstanden zu werden. Nicht wenige Christen fanden so die Kraft, stark im Glauben zu bleiben, sagt Li. So nahm ein Arzt lieber seine Degradierung zum Toilettenputzen hin als seinem Glauben abzuschwören. "Ohne diese vielen namenlosen Christen hätte unsere Kirche später nie die Gnade des Wiederaufblühens erlebt", sagt Li. Heute finden sonntags in allen Gemeinden Pekings mehrere Gottesdienste statt. Die Kirchen sind meist bis auf den letzten Platz gefüllt und Bibelkreise gut besucht.
Neben offiziell registrierten Gemeinden mit eigener Kirche existieren zahlreiche inoffizielle Christentreffen. Bleiben sie klein und unpolitisch, toleriert der Staat sie meist. Andere müssen mit Verhaftungen und Schikanen rechnen. Manche Christen haben ein zwiespältiges Verhältnis zur atheistischen Regierung und wollen sich ihr nicht unterordnen. Predigerin Li betet dafür, dass Gott die "korrupte Ein-Parteienherrschaft" in China beendet. Aber sie betet auch für die jetzige Führung. "Sie werden immer offener gegenüber unserem Glauben", meint sie. "Vielleicht kommen sie ja eines Tages und feiern mit uns Gottesdienst für ein noch besseres China."
(*) Namen geändert