Risse in der Wand - Ein chinesischer Künstler erzählt
An Großvaters Hand ging Chen zur Schule, denn sein Vater war im Arbeitslager. Als Rotgardist mit Armbinde ergriff er die Hand des sterbenden Großvaters zum letzten Mal. Nun erzählt Chen Jianghong von seiner Kindheit in China. Und von seinem neuen Kinderbuch. Ein Interview anlässlich des 60. Jahrestags der Gründung der Volksrepublik China.
30.09.2009
Das Inteview führte Stephanie von Selchow

Chen Jianghong ist Maler, Illustrator und Autor. Er wurde 1963 in der chinesischen Hafenstadt Tianjan nördlich von Peking geboren und wuchs während der Kulturrevolution dort auf. Er studierte Kunst in Peking und Paris und lebt seit 1987 als freischaffender Künstler in der französischen Hauptstadt. 1994 begann er, Kinderbücher zu illustrieren, von denen viele in Europa ausgezeichnet wurden. In seinen Gemälden und Zeichnungen verbindet er die künstlerische Tradition Chinas mit der modernen westlichen Bildwelt.

Foto: Reinhard End

Frage: "An Großvaters Hand" heißt ihr neues Buch – über Ihre Kindheit in China unter Mao. Warum ist das für Kinder in Europa interessant?

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Chen Jianghong: Weil es ein Buch über die Kindheit ist, über meine Kindheit. Es ist kein Buch über die politische Lage in China damals. Das wäre viel zu kompliziert für Kinder. Es sollte auch kein Buch sein, das anklagt. Die Kulturrevolution war ein Fehler der Zeitgeschichte. Aber ich bin kein Historiker, sondern Künstler. Es geht auch um die Kindheit im Allgemeinen, den ersten Schultag, die Ängste, Traurigkeiten, Glücksmomente, die Beziehung zwischen Großeltern, Eltern und Kind. Aber natürlich spielt die Revolution mit hinein. Das war nun mal die Zeit.

"Wenig zu essen, wenig anzuziehen, kaum Spielsachen"


Frage: Haben Sie denn damals ungefähr verstanden, was da vor sich ging, als Mao in der sogenannten Kulturrevolution die Jugend mobilisierte, um gegen die Gebildeten und Gelehrten vorzugehen?

Chen Jianghong: Nein, dazu war ich viel zu jung. Ich war etwa fünf, als mein Vater zur Umerziehung in die Nähe der russischen Grenze geschickt wurde, und ich habe nicht wirklich verstanden, was da vor sich ging. Und wir waren nicht die Einzigen: In vielen Familien wurden die Väter weggeschickt. Ich habe meinen Vater sehr vermisst, und meine Mutter hat ja auch den ganzen Tag als Buchhalterin in einer Geflügelfabrik gearbeitet. Außerdem hatten wir einfach sehr wenig. Wenig zu essen, von Süßigkeiten ganz zu schweigen, wenig anzuziehen, kaum Spielsachen, keine Bilder und nur Propagandaliteratur. Zeichnen gelernt habe ich mit dem Stock in den Sand oder auf den Boden. Aber wie gesagt, als Kind war das einfach mein Leben. Ich wusste nicht, dass man auch anders leben konnte. Ich war glücklich und traurig wie andere Kinder auch. Und ich hatte meine Großeltern. Sie waren immer für uns da.

Frage: In "An Großvaters Hand" erzählen Sie von Ihrer Nachbarin, der eleganten Frau Li, die Tänzerinnen aus Bonbonpapier mit Ihnen bastelte und Sie klassische Musik hören ließ. Auch sie wurde eines Tages auf die Straße gezerrt und verschwand für immer. Was haben Sie da gedacht?

Chen Jianghong: Ich war einfach sehr, sehr traurig, verstand aber auch da nicht, was passiert war. Jetzt verstehe ich es natürlich, aber im Buch analysiere ich die Situation nicht aus der Erwachsenenperspektive. Ich zeige einfach, wie verwirrend die Situation für das Kind war.

"Man muss trauern, dann erst kommen die Worte"


Frage: Warum hat es über dreißig Jahre gedauert, bis Sie Geschichten erzählen?

Chen Jianghong: Man braucht Reife, um ohne Wut und Hass auf eine so grausame Zeit zurückzublicken. Man muss verstehen und vergeben. Mit Mitte vierzig ist man vielleicht weit genug dafür. Es ist, wie wenn jemand stirbt. Zuerst kann man lange nicht über diese Person sprechen: Man muss trauern, dann erst kommen die Worte und Bilder. Ich wollte nicht anklagen, sondern Zeitzeuge sein. Es sollte ein dokumentarisches Buch werden, erzählt von einer sehr sanften, kleinen Stimme. Ich habe versucht, die Welt so zu sehen, wie dieser Junge sie gesehen hat. So kann ich sie mit anderen Kindern, aber auch mit Erwachsenen teilen.

Frage: Sie erzählen, wie die Risse in der Wand dem Jungen beim Einschlafen zu Tieren, Menschen und Landschaften wurden oder wie Ihre Schwester noch heute von einem Parfum träumt, nach dem eine Ausländerin damals duftete.

Chen Jianghong: Es sollte ja kein trockenes Tagebuch meines Lebens werden und trotz allem eine gewisse Leichtigkeit haben. In der Literatur geht es doch darum, wie man eine Geschichte verdichtet, wie man Emotionen zeigt, wie man Dramatik schafft, mit welcher Klarheit man Szenen gestaltet. Poesie ist das Mittel dafür.

"Ich versuche, zu etwas Universellem vorzudringen"


Frage: Sie zeigen viele Details aus dem damaligen chinesischen Alltag: Körbe, Lampions, Fahrräder, ihre Großmutter, die Jiaozi, eine Art chinesische Ravioli, zubereitet, Maobilder an der Wand.

Chen Jianghong: Es ist interessant für Kinder auf der ganzen Welt, eine Reise in eine ganz andere Kultur zu machen. Das öffnet die Augen für eine andere Art zu leben und zu denken. Gleichzeitig versuche ich in allen meinen Büchern, nicht bei etwas typisch Chinesischem stehenzubleiben, sondern zu etwas Universellem vorzudringen. In diesem Buch heißt das Thema Kindheit. Wenn zum Beispiel Großeltern sterben, sind Kinder auf der ganzen Welt traurig und fragen nach dem Tod. Das ist eine allgemeinmenschliche Erfahrung. Aber dann gilt auch wieder, dass jede Kindheit sich von anderen unterscheidet und das spätere Leben bestimmt.

Frage: Und wie wirkt Ihre Kindheit nach?

Chen Jianghong: Ich hatte eine schwere Kindheit, auch wenn ich das in meinem Buch nicht ausdrücklich sage – es scheint höchstens durch. Deshalb kommt mir das tägliche Leben heute ganz leicht vor. Solange man keinen Hunger leiden muss und ein Dach über dem Kopf hat, ist doch alles okay. Ich glaube, wenn ich eine bequeme Kindheit gehabt hätte, hätte ich heute viel weniger Kraft. Damit will ich nicht sagen, dass Kinder leiden müssen, um zu starken Menschen zu werden. Aber manchmal frage ich mich, ob die Kinder heute nicht zu behütet und materiell zu satt aufwachsen. Die interessantesten Menschen hatten jedenfalls oft eine schwierige Kindheit.

"Man wird zur Maschine"


Frage: Als junger Mann studierten Sie Kunst in Peking. Wie kam es dazu?

Chen Jianghong: Ich wollte immer Künstler werden: Es war aber sehr schwer, auf der Kunsthochschule angenommen zu werden. Man musste viele Prüfungen bestehen und die Konkurrenz war hart. Etwa dreitausend Bewerbungen, hundert kamen durch, aber nur vier bekamen schließlich einen Studienplatz. Dafür musste man sehr, sehr hart arbeiten und das habe ich getan. Opfer bringen ist ein großes Wort. Aber ich kann doch sagen, dass ich Opfer für das gebracht habe, was heute beim Zeichnen so leichthändig aussieht.

Frage: Was genau haben Sie an der Pekinger Hochschule gelernt?

Chen Jianghong: Sehr viel Technik, Handwerk, ungeheure Disziplin. Für europäische Kunststudenten unvorstellbar. Hier lernt man jede Menge über Kreativität und wenig Handwerk. Tolle Ideen, aber keiner kann richtig zeichnen. In China ist es umgekehrt: Man lernt die Technik in Perfektion, entwickelt aber keine Ideen. So wird man irgendwann zur Maschine. Für mich ist Kunst die Fähigkeit, das Handwerk zu beherrschen und sich in der ganzen Bandbreite der Kultur auszukennen. Dann kann man kreativ werden.

Frage: 1987 zogen Sie nach Paris.

Chen Jianghong: Ich habe ein Stipendium bekommen und konnte so in Paris weiterstudieren. Auch dort war es materiell zuerst hart. Aber nach einem halben Jahr konnte ich meine erste Ausstellung an der Kunsthochschule zeigen.

"Als Künstler muss man von allen Künsten etwas verstehen"


Frage: In Frankreich machen Sie Bilderbücher mit Mythen und Legenden aus China, vom "Tigerprinz", von "Han Gan und dem Wunderpferd" und "Lian". Warum dieser Stoff?

Chen Jianghong: Ich möchte die traditionelle chinesische Kunst und Philosophie, die ich wirklich wundervoll finde und die sehr lehrreich ist, mit Kindern und auch mit Erwachsenen teilen. Wenn ich ein Buch anfange, sage ich mir aber nie: Jetzt mache ich ein Kinderbuch, sondern ich möchte einfach eine gute Geschichte mit starken Emotionen und bewegungsstarken Bildern erzählen, die über das Chinesische hinaus etwas Allgemeingültiges hat.

Frage: Sie arbeiten meist mit Tusche auf Reispapier. Ich habe Sie zeichnen sehen. Es sieht so leicht und harmonisch aus, wie Sie den Pinsel führen, fast wie ein Tanz.

Chen Jianghong: Ich liebe Musik. Ich liebe Tanz. Als Künstler muss man meiner Ansicht nach von allen Künsten etwas verstehen. Wenn ich gar nichts von Musik verstehen würde, könnte ich keine Bilderbücher gestalten. Es geht dabei auch um Rhythmus, um Harmonie etc. Und wer gar nichts von Bewegung und Ausdruck versteht, kann auch nicht zeichnen, keine Dramatik schaffen. Ein Tänzer wiederum, der keine Ahnung von Farbe, Schatten, Licht und Schnelligkeit hat, kann nicht tanzen. Als Künstler bin ich all das zusammen: Maler, Comiczeichner, Dichter, Tänzer, Musiker, auch ein wenig Architekt, und so weiter. Das sind nur verschiedene Ausdrucksformen von Sensibilität und eigentlich ein Ganzes.

Frage: Wie ist Ihre Kunst, wenn Sie keine Bilderbücher illustrieren?

Chen Jianghong: Nicht gegenständlich – oft mit wolkigen Farbflecken, manchmal blütenähnlich. Schwarz, Grau und Weiß sind die dominanten Farben; die Bilderbücher sind bunt. Man sieht vielleicht auch, dass ich schnell arbeite. In der traditionellen chinesischen Malerei werden Papier- und Seidenrollen verwendet, die sehr empfindlich sind. Da muss jeder Strich stimmen.


"An Großvaters Hand. Meine Kindheit in China" von Chen Jianghong ist im Moritz-Verlag Frankfurt erschienen. Laut Verlag ist es für Kinder ab 7 Jahren geeignet (80 Seiten, Halbleinen, 24,80 Euro).

Weitere Bilderbücher von Chen Jianghong:

  • "Han Gan und das Wunderpferd" (2004): Legende des chinesischen Künstlers Han Gan, dessen gemalte Pferde eines Tages lebendig werden und sein Leben verändern (Deutscher Jugendliteraturpreis in der Kategorie Bilderbuch 2005).
  • "Der Tigerprinz" (2005): Geschichte eines kleinen Prinzen, der im Urwald von einer Tigerin aufgezogen wird.
  • "Lian" (2008): Mit seinem Zauberlotus verwandelt ein Mädchen den armseligen Besitz des Fischers Lo in Kostbarkeiten – was Neid und Habgier beim mächtigen Präfekten und seiner Tochter hervorruft.

Das vorstehende Interview erscheint auch in der Oktober-Nummer der Zeitschrift "chrismon plus", der Abonnements-Ausgabe von "chrismon".