Behörden schuld an Selbstmord in Großbritannien
Zehn Jahre lang haben Jugendliche im englischen Leicestershire eine Familie mit behinderten Kindern beschimpft, beleidigt, bedroht und verprügelt. 33 Mal rief die Mutter bei der Polizei an - der war die Schwelle zum Einschreiten nicht hoch genug. Schließlich brachte sie sich und ihre Tochter um. Jetzt steht fest: Die Behörden tragen Schuld.
29.09.2009
Von Hanno Terbuyken

Eine Jury entschied nun bei einer gerichtlichen Untersuchung, dass die Polizei und andere Behörden eine Mitschuld an dem Tod der 38-jährigen alleinerziehenden Mutter Fiona Pilkington und ihrer entwicklungsgestörten 18-jährigen Tochter hatten. Während sich die Polizei der Grafschaft Leicestershire öffentlich entschuldigte, kündigte die Unabhängige Polizei-Untersuchungskommission (IPCC) weitere Ermittlungen an.

Die 38-Jährige hatte im Oktober 2007 sich selbst und ihre Tochter Francesca in einem Auto mit Benzin übergossen und verbrannt, weil sie die Drangsalierungen nicht mehr aushielt. Zuvor hatte sie innerhalb von sieben Jahren 33 Mal bei der Polizei angerufen. Wie die Jury am Montag urteilte, tauschten Polizei und die Stadtverwaltung - wo die Fiona Pilkington das Mobbing gemeldet hatte - jedoch keine Informationen aus. So reagierte niemand auf die Anrufe der verzweifelten Frau. "Wenn sich jemand bei einer Tasse Tee mit der Frau zusammengesetzt hätte, hätte ihr vielleicht geholfen werden können", sagte die Gerichtsmedizinerin Olivia Davison der Jury.

Polizei betrachtete die Anfeidungen als geringfügig

Fiona Pilkington hatte zusammen mit ihrer schwer entwicklungsgestörten Tochter und ihrem Sohn Anthony, einem Legastheniker, in dem Ort Barwell gelebt. Eine Gruppe Jugendlicher aus der selben Straße beschimpfte und bedrohte die Familie jahrelang. Unter anderem bewarfen die Teenager das Haus mit Eiern und Steinen. Ein Mob von 16 Jugendlichen forderte die Tochter Francesca auf, ihr Nachthemd auszuziehen, ihr Bruder wurde mit einem Messer bedroht und einer Eisenstange verprügelt. Einige in der Gruppe sollen erst zehn Jahre alt gewesen sein. Bei der Polizei waren die Anrufe und Meldungen der Frau geringfügig und unterhalb der Eingreifschwelle aufgenommen worden, berichtete der britische Fernsehsender BBC auf seiner Internetseite. Der Vorsitzende der Kommission stellte fest, dass die fehlende Rückmeldung der Polizei zu ihrem Entschluss beigetragen habe, ihre Tochter und sich selbst umzubringen.

Großbritanniens Innenminister Alan Johnson kommentierte das Urteil der Jury gegenüber BBC so: "Dies hätte nie passieren dürfen. Es gibt keine Entschuldigungen dafür und es kann keine Entschuldigung geben." Der Innenminister fügte hinzu, dass er besorgt sei über einen laxen Umgang mit asozialem Verhalten seitens der Polizei: "Wir müssen sicherstellen, dass im ganzen Land die gleichen Standards gelten." Es sei Aufgabe der Polizei und Behörden sicherzustellen, dass niemand so in die Verzweiflung getrieben werde wie Fiona Pilkington.

Mark Golding von Mencap (einer britischen Organisation zur Unterstützung von Lernbehinderten) sagte, Lernbehinderte würden sehr oft Opfer von Straftaten. Dies müsste auf der gleichen Ebene stehen wie Rassismus. Es sei keinesfalls unterhalb der Eingreifschwelle, denn es "ruiniere" das Leben der Betroffenen.

Auch Innenminister Johnson kommentierte diese Einstufung ähnlich: "Im Fall von Fiona Pilkington wurde dem nicht genug Aufmerksamkeit beigemessen. Es war als geringfügig betrachtet worden, aber es ist sicher das Gegenteil, wenn man es selbst erlebt." Es gebe ein grundsätzliches Problem in der Gesellschaft, das gelöst werden müsse.

mit Material von dpa