Von mangelnder Bindungskraft und fehlenden Verheißungen
Die Angst vor einer neuen großen Koalition und Enttäuschung über die Volksparteien, besonders die SPD, haben Experten zufolge die Wahl geprägt. Viele fanden den Wahlkampf langweilig.

Enttäuschte Anhänger von Union und SPD haben nach Expertenmeinung maßgeblich zur niedrigsten Wahlbeteiligung in der Geschichte der Bundesrepublik beigetragen. Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen sagte am Montag in Berlin, insbesondere viele bisher treue SPD-Wähler seien diesmal der Wahl ferngeblieben. Denn nicht zu wählen erscheine solchen Stammwählern mitunter weniger schlimm als ein Wechsel zu einer anderen Partei.

Nicht-Wählen als vorübergehender "Ruheraum"

Die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl am Sonntag betrug 70,8 Prozent - der niedrigste Wert seit Bestehen der Bundesrepublik. 2005 waren es noch über 77 Prozent. Manfred Güllner von Forsa sagte, die großen Parteien verlören an Bindungskraft. Es drohe ein "Vertrauensvakuum". Renate Köcher, Chefin des Instituts für Demoskopie Allensbach, machte daneben den für viele Wähler uninteressanten Wahlkampf als Grund für die hohen Nichtwählerzahlen aus. Es habe weder "Verheißungen" noch "Drohungen" gegeben, erklärte Köcher. 56 Prozent der Wähler hätten die Bundestagswahl 2009 als "inhaltsarm" empfunden, sagte sie. Bei früheren Wahlen seien es maximal 37 Prozent gewesen.

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Der Politikwissenschaftler Markus Steinbrecher von der Universität Mannheim äußerte sich gegenüber dem epd überzeugt, dass die Wahlbeteiligung bei der nächsten Bundestagswahl wieder steigt. Bei dieser Wahl habe der politische Wettbewerb gefehlt. "Je klarer die Unterschiede zwischen den Angeboten der Parteien sind, desto größer ist der Anreiz, wählen zu gehen", sagte der Politologe. Sein Fachkollege Gerd Langguth sagte, beim Rückgang der Wahlbeteiligung handele es sich nach seiner Meinung um einen allgemeinen Trend. Während des Ost-West-Konflikts sei die Öffentlichkeit beinahe "überpolitisiert" gewesen. Damals habe die Wahlbeteiligung teilweise 90 Prozent betragen. Dennoch hält auch er es für möglich, dass die Polarisierung in der Politik und damit auch die Wahlbeteiligung wieder zunimmt. Für manche sei das Nicht-Wählen auch eine Art Ruheraum, um wieder zur alten Partei zurückzukehren oder sich nach einer gewissen Zeit neu zu orientieren.

"Die SPD zerfällt sozusagen"

Zum Sieg von Union und FDP hat nach Ansicht der Meinungsforscher neben der Angst vor einer Neuauflage der großen Koalition und der Enttäuschung von SPD-Wählern das gute Image von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) beigetragen. Die FDP hat den Analysen zufolge stark von taktischen Stimmen profitiert - also von Unionsanhängern, die eine Mehrheit für Schwarz-Gelb sichern wollten und deshalb ihre Stimmen den Freidemokraten gaben. Renate Köcher (Allensbach) sagte, allein in den letzten zwei bis drei Tagen vor der Wahl habe die Union noch ein Prozent ihrer Wähler an die FDP verloren. Entgegen weit verbreiteter Kritik am präsidialen, stillen Wahlkampfstil von Angela Merkel lobte Manfred Güllner von Forsa Merkels Taktik: Sie habe sich bis zum Schluss als jemand präsentiert, der sich vor allem in der Krise um die Menschen kümmert.

Besorgt zeigten sich die Meinungsforscher über die Entwicklung bei der SPD. "Die SPD ist in einer Existenzkrise", sagte Güllner. "Die SPD zerfällt sozusagen." Dies sei bereits seit längerer Zeit zu beobachten. Seit 1998 haben die Partei die Hälfte ihrer Wähler verloren. Nur die Popularität von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder habe der SPD zu einem "Zwischenhoch" verholfen. Renate Köcher sagte, auch die große Koalition habe der SPD stark geschadet. Trotz eigentlich gleicher Stärke sei die Partei sowohl in den eigenen Reihen als auch in der Öffentlichkeit als Juniorpartner der Union wahrgenommen worden. In der Opposition werde die SPD in den nächsten Jahren die Chance haben, wieder "scharfkantiger" zu werden.

Vor allem Ältere wählten Union und SPD

Union und SPD haben die überwiegende Zahl ihrer Stimmen laut Hilmer von älteren Wählern bekommen. Die Union habe im Westen durchweg verloren, im Osten dagegen überall leicht zugelegt. Auch von den weiblichen Wählern bekam die Union mehr Zuspruch, zahlreiche Männer wanderten dagegen zur FDP ab. Die kleineren Parteien konnten vor allem bei den Jungwählern punkten.

Die beiden großen Kirchen zeigten sich über die geringe Beteiligung bei der Bundestagswahl enttäuscht. Der Leiter des Katholischen Büros, Prälat Karl Jüsten, sagte dem epd, die Wahlbeteiligung sei zu gering gewesen. Der evangelische Bevollmächtigte bei der Bundesregierung, Prälat Bernhard Felmberg, sagte dem epd, die Kirche dürfe es künftig nicht mehr bei allgemeinen Wahlaufrufen belassen. Sie solle Menschen auch zum Engagement in Parteien ermutigen.

Nähe der Kirchen zur FDP in Bürgerrechtsfragen

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Von der FDP verspricht sich die katholische Kirche Fortschritte in der Migrations- und Menschenrechtspolitik. Jüsten sagte, insbesondere hoffe er, beim Thema Bleiberecht und illegale Migranten weiterzukommen. Auch Felmberg wies darauf hin, dass es in Bürgerrechtsfragen wie bei der umstrittenen Visa- und Einladungsdatei für Ausländer schon bisher eine Nähe zu Positionen der Freien Demokraten gegeben habe. "Andere politische Fragen sind schwerer handhabbar", sagte der Bevollmächtigte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). In der vergangenen Legislaturperiode waren unter anderem in der Bioethik unterschiedliche Auffassungen zwischen EKD und FDP zutage getreten.
 

dpa/epd